6. Welche Bedeutung das soziale Umfeld für das Wohlbefinden der Jugendlichen hat: Familie, Freunde, Schule und weitere Lebensbereiche

6.3.3. Jugendliche in Heimen (Foyer) und betreuten Wohnstrukturen (Slemo)

Heime als Orte der Sicherheit, aber auch von Konflikten und Stress

In Luxemburg wächst ein kleiner Teil der Jugendlichen zumindest zeitweise in einem Heim (bzw. Foyer) auf. Insgesamt 416 Kinder und Jugendliche sind in den 12 Einrichtungen im Land untergebracht (MENJE, 2020b). Meist sind familiäre Schwierigkeiten oder auch Gefährdungen der Grund für die Inobhutnahme der Kinder und Jugendlichen. Die Familien von Jugendlichen, die sich in einer Fremdunterbringung befinden, stammen überwiegend aus sozial benachteiligten Schichten und weisen i. d. R. eine Kumulierung von wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Problemen auf (Krause, 2014). Bei einer Kindeswohlgefährdung kommt das Gesetz zur Aide à l’Enfance et à la Famille (AEF) von 2008 zur Anwendung (Chambre des Députés, 2008). Leitideen der AEF sind „Prävention von Gewalt, Vernachlässigung und Misshandlung, die Verwirklichung von Kinderrechten und die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe (Inklusion)“ (Jäger & Peters, 2017, S. 23). Dabei steht eine Orientierung an den Interessen des Kindes im Vordergrund.

Jugendlichen in Heimen kann eine besonders hohe Vulnerabilität zugeschrieben werden. Sie haben ein erhöhtes Risiko etwa in Bezug auf Bildungschancen, den Übergang in den Beruf, soziale Integration, familiäre Unterstützung, psychische Krankheiten oder auch problematischen Drogen- und Alkoholkonsum (Drapeau et al., 2007). Sie schneiden in Bezug auf sämtliche gesundheitsbezogene Indikatoren schlechter ab als Jugendliche, die bei beiden Eltern aufwachsen (Heinz, Kern, et al., 2020). Den Heimen kommt daher die wichtige Aufgabe zu, diesen Jugendlichen eine angemessene Unterstützung zu bieten, sodass ausreichend Ressourcen und Resilienz aufgebaut werden können (Drapeau et al., 2007). Dies kann durch die Rolle der Erzieher gestützt und gestärkt werden, indem ein alternatives Modell der Fürsorge aufgebaut wird, welches sicher und förderlich für die Jugendlichen ist (Hawkins-Rodgers, 2007).

Viele Heimbewohner heben in der qualitativen Befragung hervor, dass sie durch das Foyer einen Ort haben, an dem sie Sicherheit und Geborgenheit verspüren, an dem für sie gesorgt wird und sie Vertrauen aufbauen können. Des Weiteren werden der respektvolle Umgang mit der Privatsphäre der Bewohner und die gute Betreuung durch die Erzieher als besonders positiv eingeschätzt. Zudem sind einige dankbar, dass sie eine Grundversorgung wie Essen und Trinken sowie einen Schlafplatz zur Verfügung gestellt bekommen.

„Et ass relax. Et ass e gudde Foyer. Och wann ech mir heiansdo soen: ‚Nee, ech wëll net méi, nanana’. Dann geet awer ëmmer. Ech hunn en Daach iwwert dem Kapp, ech hunn z’iessen, ech hunn ze drénken. An aner Leit hunn dat net. Dofir soen ech mir dann ëmmer: ‚Du bass hei gutt opgehuewen‘.

(Valerie, 15 Jahre, 32:32)

Es wird außerdem oft von einem Familiengefühl zwischen den Heimbewohnern und den Erziehern gesprochen, welches im Foyer entstehen und zu einer Stärkung des subjektiven Wohlbefindens der Jugendlichen beitragen kann. Nicht allein zu sein, ist für viele ein positiver Aspekt der Heimunterbringung.

„Et war mega familiär, also eis Grupp war och mega. Mir waren alleguerte gutt mateneen, an du bass vun der Schoul komm, has ëmmer een, deen dech genervt huet, du hues dech ni eleng gefillt. A wann s de an d’Zëmmer gaangen bass, waars de eben bei dir am Zëmmer. […] Et war eben eng grouss Famill, du waars ni eleng, egal wat s de gemaach hues.“

(Marisa, 19 Jahre, 28:37)

Viele Jugendliche bewerten Aktivitäten, welche die Erzieher zusammen mit den Heimbewohnern durchführen, als förderlich für das Gemeinschaftsgefühl unter den Bewohnern.

Weiterhin äußern Heimbewohner sich positiv dazu, dass sie organisatorische Hilfestellungen erhalten und Erzieher sie bei Alltagsaufgaben wie Kochen, Putzen, Wäsche waschen etc. unterstützen, um ihren Alltag bewältigen zu können. Die Unterstützung der Erzieher stellt für die Jugendlichen eine große Ressource dar.

„Soss jo, organisatoresch, si maachen all Rendez-vousen vun Dokteren an hei an do. Dat ass och gutt. Fannen ech. Et ass erliichterend. Jo, dass mer net kache mussen an der Woch. Et ass praktesch, well mir Schoul hunn. Ech mengen, ech géing dat net packen, ze kachen nach.

(Alina, 17 Jahre, 25:27)

Einige Befragte erzählen, dass die Erzieher ihre ersten Ansprechpersonen bei gesundheitlichen Problemen sind. Wenn sie krank sind oder es ihnen psychisch nicht gut geht, wenden sie sich an ihre Betreuer. Dabei bewerten es die Befragten als positiv, wenn die Erzieher ihre Ansichten und Probleme ernst nehmen und versuchen, ihre Perspektive einzunehmen.

„Wann mir Problemer hunn oder sou, probéieren si sech ëmmer an eis Roll ze versetzen, an […] da kënnen si eis Tipps ginn, wat mir solle maache, fir dass et eis besser geet. An och, zum Beispill wann een vun eis elo e bësschen méi ausgeschloss gëtt, dann soen se: ‚Bleif an denger Plaz am Grupp, zéi dech net zeréck, nëmme well s du op d’Säit gestallt gëss oder sou. Probéier ëmmer deng Plaz ze halen.‘ Jo, also si sinn am Fong ëmmer fir eis do.

(Valerie, 15 Jahre, 32:37)

Jugendliche berichten jedoch auch, dass es des Öfteren zu Konflikten zwischen den Heimbewohnern kommt. Egal ob sie aktiv daran beteiligt sind oder den Streit nur miterleben – meist werden Auseinandersetzungen als belastend wahrgenommen und können ein Auslöser für Stress, psychische Beschwerden und ein niedriges subjektives Wohlbefinden sein.

„Et ass just, dass mir Geschwëster hei hunn. Dat heescht e Jong an e kléngt Meedche vun 13. Hatt ass dat Jéngst hei. An et ass oft mega Gestreits mat hinnen. Also sou […] tëschent hinnen. Dofir, et ass just dat doen, wat bëssen… Mir kréien dann ëmmer alles mat, an da streiden si iwwert familiär Problemer, an nëmmen… Heiansdo hunn mir jo och Sträit mateneen, mee allgemeng verstinn ech mech mat jidderengem.

(Alina, 17 Jahre, 25:41)

Auch Mobbing spielt im Leben der Jugendlichen im Foyer eine Rolle. Einige Jugendliche merken an, dass das Zusammenleben unter den Gleichaltrigen geprägt ist von Gruppendynamiken, die immer wieder dazu führen, dass Personen ausgeschlossen oder schikaniert werden. Oft wird Mobbing in Form von Ignorieren und Ausschließen erfahren.

„Eng Kéier sinn ech ignoréiert ginn, an ech wollt dat net, well ech hunn dat net gär. […] Awer net nëmmen ech ginn ignoréiert, mee puer mol ignoréiere mir och aner Leit, et kënnt ëmmer een drun. Mee ech ignoréiere kee méi, well ëmmer wann een een ignoréiert, gëtt sou gesot ‚mobbt‘, da kritt een dat och zeréck, mengen ech.

(Brianna, 12 Jahre, 30:24)

Häufig wird auch über zu strikte oder nicht nachvollziehbare Regeln in den Einrichtungen geklagt. Die Jugendlichen bemängeln die fehlenden Möglichkeiten der Beteiligung und Mitsprache bei der Aufstellung von Regeln. Sie kritisieren, dass ihre Wünsche, Anregungen und Beschwerden zwar aufgenommen und diskutiert, aber häufig nicht umgesetzt werden.

„Also mir hunn ëmmer Jugendversammlungen, sou all dräi Méint […], an da schwätze mer nei Reegelen oder wat eis net gefält an mir hunn da vill Argumenter, an […] meeschtens kréie mer et och ‚nee‘ gesot, also et ass… Mir kréien ëmmer: ‚Nee, dat geet net‘, ‚Nee, dat geet net, wäert froen, mee dat geet net‘, dofir fannen ech heiansdo dat och onnëtz, dass mir Versammlungen hunn, well mir souwisou ëmmer ‚nee‘ gesot kréien.

(Alina, 17 Jahre, 25:26)

Einige Befragte geben an, dass sie die Distanz zu ihrer Familie als besonders belastend erleben und sie nicht verstehen, warum sie bezüglich der Besuchshäufigkeit ihrer Familie kaum Mitspracherecht haben. Allein der Umstand, in einem Foyer zu wohnen, von den Eltern oder den Geschwistern getrennt worden zu sein, wirke sich negativ auf ihr subjektives Wohlbefinden aus. Bei ihren Eltern fühlen sich einige der Befragten trotz allem mehr „zu Hause“ und sie beschreiben eine Sehnsucht nach einem richtigen Heimatgefühl.

„Dat ass schonn eppes, wou ech mech drop freeën, well munchmol geet et mer och, am Foyer ze sinn, op de Geescht. Ech fannen et net flott hei. Engersäits fannen ech et net flott hei ze sinn, awer anerersäits fannen ech et awer erëm flott. ‘t ass, ech si léiwer doheem. […] Jiddwereen ass gären doheem.

(Felix, 13 Jahre, 61:33)

Die Heime bedeuten für die Bewohner eine gewisse Sicherheit, was insbesondere für Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen von besonderer Bedeutung ist. Gleichzeitig ist der Alltag in Heimen aber zum Teil auch mit Stress und Konflikten verbunden, die Jugendliche als belastend erleben.

Betreute Wohnstrukturen (Slemo): Begleitung zur Selbstständigkeit und Eigenverantwortung

Einige Heimbewohner wechseln in eine betreute Wohnstruktur (Slemo; Structure de logement en milieu ouvert), wenn sie die Volljährigkeit erreichen. Diese betreuten Wohnstrukturen bieten eine punktuelle Betreuung der Jugendlichen sowie eine Begleitung in die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Mithilfe der Slemo-Strukturen werden Jugendliche beim Übergang in das Erwachsenenleben, wie beispielsweise bei der Suche nach einer Ausbildung oder einem Arbeitsplatz, unterstützt (Jäger & Peters, 2017). In den Wohnstrukturen wohnen die jungen Erwachsenen allein oder mit anderen Jugendlichen zusammen, die teilweise selbst früher in einem Heim gewohnt haben.

Jugendliche, die in Fremdunterbringungen aufgewachsen sind, haben aufgrund der Schwierigkeiten und Konflikte zuhause häufig bereits viele Probleme und Belastungen erlebt, aber oft auch eine höhere Resilienz und Bewältigungsfähigkeit entwickelt. Sie entwickeln vorzeitig Unabhängigkeit und Eigenverantwortung, müssen bereits früh viel stärker für sich selbst einstehen und lernen, ohne elterliche Unterstützung ihr Leben zu meistern (Daining & DePanfilis, 2007). Diese Herausforderungen stellen einerseits Belastungen dar, können aber auch als Entwicklungschancen gesehen werden, durch die es Jugendlichen gelingen kann, ein starkes Selbstvertrauen und Resilienz aufzubauen (Samuels & Pryce, 2008). Einige Jugendliche wissen diesen frühen Druck zur Eigenständigkeit und Autonomie zu nutzen, während für andere die größere Eigenverantwortung eine Belastung darstellen kann.

Der große Unterschied zwischen Heimen und Slemo-Einrichtungen ist der Grad an Selbstbestimmtheit und Verantwortung für das eigene Leben. Stehen in Heimen rund um die Uhr Betreuer zur Verfügung und sind oft strenge Regeln vorhanden, so verändert sich dies mit dem Umzug in eine Slemo-Einrichtung. Die Jugendlichen beschreiben häufig einen höheren Grad an Autonomie, Freiheit und Selbstbestimmung als eine positive Veränderung.

„Also positiv ass, dass ech hei eigentlech maache ka, wat ech wëll. Ech stinn net ënnert permanenter Kontroll hei. Dat heescht, dass ech wierklech meng Fräiheeten hunn, ech ka goe, wann ech wëll, ech ka maache, wat ech wëll, soulaang ech heiheem alles maachen, sou wéi et soll sinn.

(Denise, 19 Jahre, 27:27)

Trotz der größeren Autonomie und Eigenverantwortung, die von den Jugendlichen in einer Slemo-Einrichtung erwartet werden, wird ihnen weiterhin Betreuung und Unterstützung angeboten. Viele der Slemo-Bewohner wertschätzen die angebotenen Hilfestellungen bei organisatorischen Aufgaben. Obwohl die Betreuer nicht ständig vor Ort erreichbar sind, geben viele Jugendlichen an, dass sie sich bei Fragen stets bei dem Erziehungspersonal melden können. Dabei können sie eigenständig entscheiden, inwiefern sie die Unterstützung brauchen.

„Heiansdo, wann een net eens gëtt, oder wann eppes elo geschitt ass, da freet ee Rot, a wat een sou an esou enger Situatioun soll maachen, also soll, kéint maachen. An jo, do kritt een awer ëmmer Hëllef. Si hunn ëmmer en oppent Ouer.

(Fatima, 20 Jahre, 23:36)

Nicht nur bei organisatorischen Fragen, auch in belastenden Situationen können sich die Jugendlichen an ihre Betreuer wenden. Viele Interviewte profitieren davon, eine erwachsene Bezugsperson zu haben, der sie sich anvertrauen und mit der sie über Probleme und Alltägliches sprechen können.

Die größte Herausforderung für Jugendliche in Slemo-Einrichtungen ist die hohe Eigenverantwortung, welche ihnen dort ermöglicht und gleichzeitig auch von ihnen erwartet wird. Heimbewohner lebten meist mehrere Jahre lang zusammen mit anderen Kindern und Jugendlichen im Heim und sind es nicht gewohnt, auf sich allein gestellt zu sein.

„Wann d’[NAME] zum Beispill net do ass, an da fillen ech mech och net wuel, well ech dann eleng sinn. […] Mee dat ass och, well ech am Foyer opgewuess sinn an do ware jo ëmmer Leit. An wann een dann op eemol mat 18 Joer do eraus geet, an et kënnt een an eng Wunneng, dann ass een sou: ‚Genee, et ass kee méi do, et ka kee méi nerven, et kann een net schwätzen‘.

(Marisa, 19 Jahre, 28:10)

Einigen Jugendlichen, die sehr lange in Heimstrukturen untergebracht waren, fällt der Abschied von den Menschen im Heim daher besonders schwer. Denise, eine 19-jährige Befragte, berichtet, dass sie nach dem Wechsel von einem Heim in die Slemo-Einrichtung zu Beginn sehr traurig war, da sie sich von den anderen Heimbewohnern und den Betreuern verabschieden musste.

„Mee traureg, an deem Sënn, war ech awer och, well déi Leit, […] ech hunn déi alleguer kannt, säitdeem se kléng waren. Mer kennen eis, déi meescht vun deenen, kenns du scho säit 6-7 Joer an op eemol bass du fort vun deenen. Du bass eleng an dann jo. Dat mécht ee schonn traureg dono, dass een dann net méi do ass.

(Denise, 19 Jahre, 27:9)

Außer durch das Alleinsein sind einige Jugendliche zudem teilweise überfordert durch die neuen Aufgaben wie beispielsweise die Haushaltsführung oder bürokratische Angelegenheiten, die sie nun selbstständig erledigen müssen. Die Tatsache, dass sich das Leben der Jugendlichen mit 18 Jahren drastisch ändert und sie auf einen Schlag für alle Aspekte ihres Alltags selbst verantwortlich sind, stellt für viele eine große Herausforderung dar und kann ihr Wohlbefinden beeinträchtigen.

„Et huet een déck vill ze iwwerleeën, wat een alles maache muss, also sou vu Pabeieren, vu wou een Hëllef ka kréie a soss iergendeppes, dann hues de 300 Pabeieren do stoen, an da muss de dech ëm 300 Saachen këmmeren, an dann hues de nach Schoul, an dann ass nach d’Aarbecht, an da kënns de heem an da muss de nach d’Wäsch maachen, an da muss de nach d’Spull maachen, an da muss de nach kachen, an da muss de léieren. Iwwerfuerderung!

(Marisa, 19 Jahre, 28:41)

Insgesamt wird deutlich, dass die Mehrzahl der Jugendlichen in den betreuten Wohnstrukturen die neu gewonnene Autonomie und die damit verbundene Eigenverantwortung durchaus positiv bewertet. Andere scheinen größere Schwierigkeiten mit den an sie gestellten Anforderungen zu haben und sind damit zum Teil überfordert.