8.2.1. Gesundheitsbezogene Diskurse im Kontext der formalen Bildung: Zwischen neuen Zielsetzungen und strukturellen Beharrungstendenzen
Die politisch-administrative und fachliche Auseinandersetzung mit Aspekten von Wohlbefinden und Gesundheit im luxemburgischen Schulbereich ist Bestandteil eines übergreifenden bildungspolitischen Diskurses um die Frage, unter welchen Bedingungen es gelingt, allen Schülern die gleichen Voraussetzungen und Chancen für einen erfolgreichen Bildungserwerb zu ermöglichen und ihnen so nachhaltige Ressourcen für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden bereitzustellen. Die Existenz von Wohlbefinden und Gesundheit wird dabei als eine zentrale Grundvoraussetzung für das Gelingen von schulischen Lern- und Entwicklungsprozessen interpretiert. Nur denjenigen Schülern, denen es gut gehe, so die Expertenmeinung, gelänge es auch, sich Bildungs- und Lernprozessen erfolgreich zu öffnen.
„[…] dat ass ja kloer, engem Schüler deem et gutt geet, deen ass och entspriechend interesséiert um Unterrecht.“
(Exp1, 73:31)
Dieser bildungspolitische Diskurs orientiert sich u. a. an dem Konzept der Weltgesundheitsorganisation (WHO) „Gute, gesunde Schule“, das die beiden Strategien „Gesundheit durch Bildung“ (School for Health in Europe, 2021) sowie „Qualifizierung von Bildung durch Gesundheit“ (Paulus, 2003) zu einer Gesamtstrategie vereint. Ziel ist es, ein Schulsetting zu schaffen, in dem die Schüler im Rahmen der schulischen Bildung zur gesundheitsbezogenen Eigenverantwortung qualifiziert werden und in dem zugleich Wert auf eine bestmögliche Gesundheitsförderung im Schulalltag gelegt wird. Es sind Strategien, deren Bedeutung auch durch das luxemburgische Schulgesetz von 2017 hervorgehoben wird (Chambre des Députés, 2017b).
Entsprechende Konzepte beeinflussen die strukturellen Bedingungen in der Schule, wie etwa die Schulraum- und Unterrichtsgestaltung, die Mittagsverpflegung an Schulen oder das schulische Rahmenangebot rund um den Unterricht. Neben den strukturellen Veränderungen geht es zudem um die Förderung individueller Gesundheitskompetenzen. Die Schüler sollen u. a. dazu befähigt werden, gesundheitsrelevante Anforderungen ihrerseits positiv zu beeinflussen und eigenständig zu bewältigen. Dabei sind Themen wie Bewegungsförderung, Suchtprävention oder auch der adäquate Umgang mit Stress und Leistungsdruck besonders hervorzuheben.
Positionen des Schulklimadiskurses
Die genannten Positionen lassen sich auch in den Kontext des in Luxemburg geführten Schulklimadiskurses einordnen, dessen Ursprung u. a. auf Schulklimastudien aus dem Jahr 2006 und den Folgejahren zurückgeht (Nilles et al., 2016)2. Ein gutes Schulklima wird in den hier zugrunde gelegten Positionen als ein weiterer zentraler Faktor für die Gesundheit und das Wohlbefinden von Schülern und Lehrern interpretiert. Schulklima fördernde Maßnahmen dienen dabei sowohl der Prävention von sozialen Problemen als auch der Abwehr von psychischen Belastungen und Suchtproblematiken und nicht zuletzt der Verhinderung von Schulabbrüchen.
Auch das Phänomen Schulklima wird auf der Basis von drei Konzepten diskutiert, die in den diskursrelevanten Dokumenten beschrieben werden: auf der Basis der bereits genannten und im EU-Kontext entstandenen Präventionskonzepte „Gesundheitsfördernde Schule“ und „Gute, gesunde Schule“ sowie auf Basis des „whole school approach“, der im Kontext des UNESCO-Aktionsprogramms „Bildung für nachhaltige Entwicklung “ entwickelt wurde. Alle Konzeptionen begreifen Gesundheit im Sinne der WHO ganzheitlich als physisches, psychisches, soziales und ökologisches Geschehen und nehmen daher nicht nur die Personen, sondern auch die Verhältnisse in den Schulen in den Blick. Die Konzeptionen basieren in diesem Sinne auf einem ganzheitlichen Verständnis von Schule, die nicht nur einen Lernort darstellt, sondern darüber hinaus zu einem umfassenderen Lebensraum für Schüler und Schulpersonal werden soll.
„Kinder und Jugendliche verbringen einen Großteil ihres Alltages in der Schule, und ein gutes Schulklima ist demnach besonders wichtig. Die Stärkung des Wohlbefindens in der Schule ist somit eine obere Priorität. […]. Darüber hinaus soll das schulische Umfeld als Ort der sozialen Begegnung ein Zugehörigkeitsgefühl aller Akteure ermöglichen und erleichtern.“
(Ministère de l’Éducation nationale, de l’Enfance et de la Jeunesse [MENJE], 2020a)
In dieser Interpretation von Schule muss die Gesundheits- förderung notwendigerweise Teil von Schulkonzepten sein, und dies umso mehr, wenn in Betracht gezogen wird, dass Lehrer und Schüler heute und künftig immer mehr Zeit im Setting (Ganztags-)Schule verbringen.
Obwohl die dargestellten Strategien und Entwicklungen auf der politisch-administrativen Ebene aktuell intensiv diskutiert werden, scheint die praktische Umsetzung entsprechender Konzepte auf der Schulebene noch meist in ihren Anfängen zu stecken. So weisen die befragten Experten auf ein bislang noch bestehendes Ungleichgewicht zwischen einer theoretisch-normativen Gesundheitsstrategie und ihrer alltagspraktischen Anwendung im Schulalltag hin. Dies gilt besonders für das seitens des Bildungsministeriums ausgearbeitete Schulklimamodell CARAT, das formal betrachtet zu den wichtigsten nationalen Strategien zur Verbesserung des Schulklimas zählt, jedoch im Alltag der luxemburgischen Schulen bislang noch kaum konkret aufgegriffen wird. Auch stehen strukturelle Maßnahmen der Gesundheitsförderung wie Demokratisierungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten für Schüler oder nachhaltige gesundheitsbezogene Angebote für die gesamte Schülerschaft und für das Schulpersonal laut der Experten häufig noch hinter punktuellen Einzelmaßnahmen für bestimmte Zielgruppen zurück.
„[…] d’Schoulen sinn et ebe gewinnt, nach ëmmer […] datt si ganz dacks Projeten ufroen, wann et iergendwou brennt […]. Ob dat zum Thema Mobbing ass, ob dat an der Suchtpräventioun ass. […] An dat verhënnert och e bësselchen fir sou en iwwergräifend Konzept fir d’Schoulen anzesetzen.“
(Exp1, 73:61)
Vertreter der Schulen verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass Veränderungsprozesse in den formalen Bildungsbereichen stets an gewisse curriculare Regeln und Bestimmungen gebunden seien, wodurch etwa gesundheitsbezogene Maßnahmen oder die Partizipation der Schüler an der Gestaltung des Schulalltages „natürlich“ eingeschränkt seien. Gesundheitsziele seien immer (auch) vor dem Hintergrund des Erziehungs- und Bildungsauftrags der Schule zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund wird es für normal gehalten, dass Schulen gesundheitsbezogene Fragen je nach ihrer Intensität oft eher in ein sie umgebendes Kooperationsnetzwerk auslagern müssen.
„Also, do gëtt et, wéi gesot, natierlech och Problemer, déi net méi innerhalb vun der Schoul kënnen geléist ginn. Mee dofir hu mer jo och ganz vill extern Institutiounen, Servicer, déi sech de verschiddenste Problematiken unhuelen.“
(Exp1, 73:118)
In dieser Kontroverse könnte die mit dem Schulgesetz 2017 (Chambre des Députés, 2017a) eingeführte Verpflichtung zur Entwicklung schulbezogener plans de développement de l’établissement scolaire (Schulentwicklungspläne), in denen neben klassischen Bildungsaspekten auch gesundheitsbezogene Ziele und Maßnahmen festgelegt werden sollen, vermittelnd wirken. Die Schulentwicklungspläne scheinen mit dieser Ausrichtung zumindest nach Ansicht der Experten dazu geeignet, die Wechselwirkungen zwischen Bildungsthemen und Gesundheitsfragen in den Schulen sinnvoll und einrichtungsspezifisch aufeinander zu beziehen.
Ganzheitliche Lernorte und komplementäre Lernformen: Zur Verbindung formaler und nonformaler Bildungsansätze
Aspekte von Wohlbefinden und Gesundheit werden auch mit Blick auf die Verzahnung von Bildungsansätzen im Kontext der „neuen Bildungsdebatte“ thematisiert, die in der Folge der Pisa-Studien europaweit und auch in Luxemburg an Bedeutung gewonnen hat (Hartmann et al., 2018). Hierbei wird die Schaffung komplementärer Bildungsorte, die formale und nonformale Bildungsansätze miteinander verbinden und auch das lokale Umfeld stärker mit einbeziehen, als eine geeignete Strategie betrachtet, das schulische Wohlbefinden und eine ganzheitliche Entwicklung der Jugendlichen im Kontext der Schule zu fördern.
„An dieser Stelle sei die Wichtigkeit der Zusammenarbeit von SSE und SePAS zu unterstreichen, da sich beide in diesem Punkt durch ihre jeweiligen Arbeitsweisen ergänzen und, gemeinsam mit dem Jugendlichen, den Eltern oder weiteren Mitgliedern der Schulgemeinschaft, dazu beitragen, dass der Jugendliche genau dort unterstützt und betreut wird, wo es für sein Wohlbefinden nötig ist.“
(MENJE, 2020a)
In diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass insbesondere emotionale Faktoren sowie zwischenmenschliche Beziehungen innerhalb und außerhalb der Klassen das schulische Wohlbefinden beeinflussen (können) und diese Aspekte gut über die spezifischen Bildungsansätze der Jugendarbeit gefördert werden können. Auf der Ebene der Schulen soll dies u. a. durch die Einführung von services socio-éducatifs (SSE) (Jugendtreffs) sichergestellt werden, die freiwillig nutzbare pädagogische Angebote auf einer eher niedrigschwelligen Basis offerieren und das formale Lernsetting so um neue Möglichkeiten der Partizipation ergänzen. Auch hier steht die Vision eines „gesamtschulischen Ansatzes“ im Sinne des „whole school approach“ unter der Beteiligung aller relevanten Akteure im Fokus (28:5; 66:9).
In diesem Sinne wird schulisches Wohlbefinden mit einer Gleichgewichtung von formaler, curricularer Bildung einerseits und nonformalen Bildungs- und Partizipationsangeboten andererseits in Verbindung gebracht. Dabei wird auch auf die in Luxemburg nach wie vor hohe Quote der Schulabbrecher verwiesen. Es wird davon ausgegangen, dass besonders bildungsschwächere Schüler von einer ganzheitlichen Bildungslandschaft profitieren können.
„D’Schoul kann net méi anescht, wéi sech och ze interesséiere fir een Encadrement, deen, mengen ech, méi holistesch ass oder dee méi op si generell axéiert ass, well d’Schoul ufänkt ganz vill Jonker ze verléieren, oder well se selwer net méi wëssen, wat se mat deene schwaache Jonke solle maachen.“
(Exp16, 93:8)
Eher kritisch wird über den Fortbestand der kulturellen Unterschiede und institutionellen Gräben zwischen den Akteuren Schule und Jugendarbeit diskutiert. Hier werden weitere Anstrengungen dahingehend für nötig gehalten, die ehemals voneinander losgelösten Bildungsorte und pädagogischen Kulturen im Sinne einer Förderung des schulischen Wohlbefindens zielgerichteter miteinander zu verbinden.
„[…] iwwerall do, wou mir Rapprochementer versichen ze maachen, zwëschent Secteuren, zum Beispill d‘Schoul, formal – nonformal Bildung, Schoul an Maison Relais, awer och dann, wéi zum Beispill Schoul an AEF-Beräich, stousse Kulturen openeen.“
(Exp17, 81:70)
Die in diesem Diskurs verwandten Metaphern des„Kolosses“ Schule, der eine Partnerschaft mit dem „Underdog“ der Jugendarbeit eingeht (81:41), verdeutlichen die hierbei wahrgenommenen Unterschiede zweier „ungleicher Partner“. Diese Differenzen werden bislang sowohl auf der disziplinären Ebene zwischen schulischen Anforderungen und der Jugendarbeit beobachtet als auch in der konkreten Zusammenarbeit von Lehrpersonal und Jugendarbeitern.
Wohlbefinden im Kontext der Sonderschulreform
Die Frage der Ausdifferenzierung der Bildungslandschaft umfasst auch den Blick auf die luxemburgische Sonderschulreform. In ihrem Zentrum steht der Diskurs über eine zunehmend inklusive Pädagogik, über die Schüler mit einem „besonderen Förderbedarf“ auf ihrem formalen Bildungsweg adäquater unterstützt werden können.
Diese Entwicklung geht im Kern auf die Auffassung zurück, dass es zu den Aufgaben der Schulen gehört, die Lern- und Leistungsentwicklung sowie die psychosoziale Entwicklung aller Schüler gleichermaßen zu fördern. Auch hier wird schulisches Wohlbefinden als eine Grundvoraussetzung für die positive Lernentwicklung betrachtet und zudem (etwa im Sinne salutogenetischer und resilienzbezogener Ansätze) als ein Schutzfaktor für den Umgang mit negativen Schul-, Lern- und Lebenserfahrungen (Hascher, 2017; Jané-Llopis & Braddick, 2008; Ministère de la Santé, 2015; MENJE, 2017)3.
Der hierzu geführte Diskurs schließt an die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention an. Mit der Ratifizierung in 2011 hat sich der luxemburgische Staat u.a. dazu verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem zu etablieren, in dem auch das Wohl jener Kinder und Jugendlichen, die Lernschwierigkeiten in der Regelschule aufweisen und/oder von sozialen Benachteiligungen betroffen sind, spezifisch gefördert werden kann (Cham- bre des Députés, 2011).
Mit Anpassungen im luxemburgischen Schulgesetz in den Jahren 2017 und 2018 (Chambre des Députés, 2017a, 2018b) wurde diesen übergeordneten Zielen gefolgt. Auf der Grundlage der Gesetze wurden eine Vielzahl neuer Förderstrukturen und Konzepte für das gemeinsame Lernen in einer wohnortnahen Regelschule sowie Maßnahmen für die individuelle Unterstützung für Jugendliche mit einem spezifischen pädagogischen Förderbedarf eingeführt.
Gesundheitsbezogene Diskurse auf der bildungspolitischen Ebene und im Schulbereich, aber auch im Kinder- und Jugendhilfesektor, befassen sich in diesem Kontext mit den institutionellen Anforderungen und Rahmenbedingungen, die zur Etablierung eines ganzheitlichen und inklusiven Bildungsbereichs sinnvoll erscheinen. Dabei werden Fragen der bildungsbezogenen Chancen(un)gleichheit und der Sicherstellung von psychischer Gesundheit zunehmend in einer ganzheitlichen Perspektive betrachtet, die es zulässt, die individuelle Bedürfnislage stärker als bisher in den Fokus zu nehmen.
„Elo […] wou d‘Kand am Zentrum steet, an wou mer dann och elo mat der Schoul, mam Schoulberäich ganz enk sollen, wëllen, mussen zesummeschaffen, well et am Interessi vum Kand jo och wichteg ass. Dat heescht, den Rapprochement tëschent dem Setting Schoul, dem Setting Aide à l‘Enfance, dem Setting Schoul – nonformal Bildung, dass een am Fong geholl seet, déi holistesch Vue.“
(Exp11, 90:11)
Als ein zentraler Aspekt dieses Diskurses lässt sich festhalten, dass Ansätze der Partizipation und der Mitbestimmung der Schüler an der Gestaltung des schulischen Wohlbefindens immer mehr Beachtung finden. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass die Prämisse „Das Kind/der Jugendliche im Mittelpunkt“ sowohl in den Diskursen auf der politischen Ebene und in den entsprechenden Strategiepapieren als auch in den pädagogischen Kon- zepten der Praxiseinrichtungen in den vergangenen Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen hat.
2 Unter anderem in der nationalen Studie zur mentalen Gesundheit bei Jugendlichen (Louazel et al., 2010) wurde darauf verwiesen, dass die Schulen und das in ihnen vorherrschende Klima eine wesentliche Rolle bei der Förderung des Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen 2011 hat das zuständige Ministerium eine erste Veröffentlichung zum Schulklimamodell CARAT herausgebracht, das sich als Rahmen versteht, mit dem die Verwirklichung eines guten Schulklimas umgesetzt werden kann. Auch in den rezenteren Publikationen zur Arbeit der neugeschaffenen Services socio-éducatifs und der Service psycho-social et d’accompagnement scolaires (SePAS), in Dokumenten zum Umgang mit Cannabis und Alkohol in Schule bzw. Jugendarbeit sowie in Strategiepapieren des Ministeriums wird immer wieder die Wichtigkeit des Schulklimas für das Wohlbefinden aller Personen in den Schulen hervorgehoben.
3 Studien sehen neben sozioökonomischen Faktoren vor allem eine schlechte mentale Gesundheit als wichtigen Grund für frühen Schulabgang (Jané-Llopis & Braddick, 2008). Für Luxemburg hat die NEET-Studie des Service National de la Jeunesse (SNJ) festgestellt, dass Schüler, die sich in der Schule nicht wohlfühlen, ein doppelt so häufiges Risiko des Schulabbruchs haben wie andere. Weiterhin zeigt die Studie, dass Schulabbrecher, die sich in einer NEET-Situation wiederfinden, auch häufig Gesundheitsprobleme