8. Wie Experten über das Wohlbefinden und die Gesundheit Jugendlicher diskutieren

Spotlight: Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf Diskurse und Praktiken zum Wohlbefinden und zur Gesundheit

Im Oktober 2020 wurden im Rahmen des Projektes YAC+ – Young People and COVID-19: Social, Economic, and Health Consequences of Infection Prevention and Control Measures among Young People in Luxembourg zwei zusätzliche Gruppendiskussionen mit Experten aus den vier jugendrelevanten Praxis-Feldern zur Covid-19-Pandemie durchgeführt, um Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Diskurse von Experten zu Gesundheit und Wohlbefinden zu identifizieren. Die Experten thematisieren in diesem Sinne in den Gruppendiskussionen besonders die phasenspezifischen Auswirkungen der Pandemie auf die gesundheitsbezogenen Strategien in den verschiedenen Feldern ebenso wie die prinzipiellen Veränderungen der Diskurse über Gesundheit und Wohlbefinden.

Veränderungen der spezifischen Diskurse in den vier untersuchten Feldern durch die Covid-19-Pandemie

Um gezielt pandemiebedingte Veränderungen der Diskurse zu untersuchen, wurden zu den Gruppendiskussionen u. a. Experten eingeladen, die bereits vorher interviewt worden waren. Ihre Diskursausrichtungen zu Wohlbefinden und Gesundheit und die hierbei zugrundeliegenden Konzepte zeigen keine fundamentalen Veränderungen über die ersten Phasen der Pandemie hinweg. Die bereits vorher bestehenden Orientierungen und Begründungen scheinen durch die Pandemie zusätzlich gestärkt worden zu sein.

„Déi ganz Diskussioun ëm d‘Wuelbefannen, huet eis erëm […] zeréckbruecht, an sou d‘Basics wéi mer d‘Gesondheetsfërderung opgebaut hunn, mat der Salutogenèse vum Antonovsky, datt et muss verständlech sinn, et muss machbar sinn, et muss wierksam sinn.

(Exp. GD 1-4, 107:230)

Im Bereich der formalen Bildung wird angesprochen, dass die Schließung der Schulen in der ersten Phase des Confinements zu einer Re-Priorisierung bestimmter Schulfunktionen geführt hat: Qualifikations- und Allokationsfunktionen, also Lerninhalte und Prüfungen, standen wieder im Vordergrund, Werte- und Demokratiebildung sowie Wohlbefinden und Gesundheitsförderung wurden nach Auskunft der Experten weniger beachtet (Schubarth, 2020). Auch Nebenfächer, die als „soft“ definiert werden, wie Kunst, Musik oder Sport wurden in der Pandemie häufiger als nicht essentiell angesehen und weniger unterrichtet als etwa Mathematik oder Sprachen.

„Mir schaffen op Kultur, Sport, Wuelbefannen a lauter Saachen, déi, wann et bis haart op haart kënnt, eben net méi essentiell vun der Gesellschaft wouergeholl ginn.

(Exp. GD 1-5, 107:241)

Die Schulen entwickelten für die Phase des Confinements und die Zeit danach autonome Konzepte, um den Schulalltag an die Covid-19-Restriktionen anzupassen. Schulen, die bereits vor der Pandemie ein globales Schulkonzept besaßen, in dem die verschiedenen Schulfunktionen unter Einbezug aller Akteure berücksichtigt wurden (siehe Kapitel 8.2.1.), konnten sich nach Einschätzung der Experten gut an die veränderte Situation anpassen. Es wurden nicht nur die notwendigen digitalen Techniken bereitgestellt, sondern zudem wurde viel Wert auf die Strukturierung des Schüleralltags beim Lernen zuhause, die alltägliche Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern sowie die psychische Unterstützung von Lehrern und Schülern gelegt. Diese Maßnahmen führten nach Meinung der Experten bei einem großen Teil der Jugendlichen zu einer Autonomiezunahme und einem vermehrten schulischen Engagement sowie zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls der Schüler.

Dagegen wurde die Jugendarbeit durch die Pandemie und die politischen Eindämmungsmaßnahmen aus Sicht der Befragten eher negativ beeinflusst: Sie wurde während des Confinements als ein nicht essentielles Angebot eingestuft und musste länger als andere Dienste schließen. In dieser Zeit entstand ein Bruch in der regelmäßigen Beziehungsarbeit der Fachkräfte mit den Jugendlichen. Obwohl die meisten Institutionen mit Hilfe digitaler Techniken den Kontakt zu den Jugendlichen irgendwie aufrechterhalten konnten, wurden besonders vulnerable Jugendliche nach Meinung der Experten kaum erreicht. Auch konnten in dieser Zeit nur wenige neue Jugendliche gewonnen werden.

Nach dem Ende des Confinements nahmen die Einrichtungen im Feld der Jugendarbeit ihre Arbeit wieder auf und thematisieren in ihrer Praxis heute vermehrt die Pandemie und ihre Auswirkungen auf die Jugendlichen. Einige während der Schließungen als besonders wirksam und positiv wahrgenommene digitale Angebote wurden langfristig in die pädagogischen Konzepte integriert. Zudem wird von kreativen und innovativen Angeboten berichtet, die den Jugendlichen Normalität und Sicherheit in Zeiten der Pandemie vermitteln sollen, sowie von differenzierten und jugendgerechten Informationsmöglichkeiten über die Hintergründe und Fakten der Pandemie. Die Experten berichten auch von neuen Kooperationen und Vernetzungen der Einrichtungen mit anderen jugendspezifischen Infrastrukturen.

„Et ginn awer zum Gléck och Momenter […] wou een probéiert […] eng gewëssen Normalitéit ze spillen […] Mir probéieren […] einfach d‘Liewen ze genéissen, och am Jugendhaus. An dofir mengen ech, dass vill Jonker dohin kommen, fir einfach mol Ofstand zu deem Alldag, dann e bëssen ze kréien.

(Exp. GD 2-3, 108:39)

Auch im Feld der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe mussten die meisten Dienste während des Confinements schließen. Nach Auskunft der Befragten kehrten in dieser Zeit viele Heimkinder in ihre Herkunftsfamilien zurück, unterstützt und begleitet durch intensive mobile Familienhilfe. Obwohl die Familienrückführungen nicht intensiv vorbereitet werden konnten, bescheinigen die Experten ihnen einen befriedigenden Verlauf. Demnach hätten die betroffenen Familien und Jugendlichen trotz der prinzipiellen Verstärkung von bestehenden Problemen durch die Pandemie eine große Resilienz gezeigt. Im Sinne der Prämisse „Das Kind/der Jugendliche im Mittelpunkt“ sei aus dieser Situation die Überlegung erwachsen, ob die bestehende Praxis der justizverordneten, institutionellen Hilfen künftig durch zusehends mehr familienunterstützende und präventive Hilfen verändert werden könnte.

„Mir mussen do déi richteg Léieren dorauser zéien. Well, wéi kann et sinn, dass mir […] Kanner op der Waardelëscht fir e Placement judiciare ze maachen [hunn] an […], dass mir innerhalb vun zwou Wochen quasi d‘Hallschent vun eise Kanner kënnen heem schécken an dat eenegermoossen gutt funktionéiert doheem.

(Exp. GD 2-1, 108:84)

In der Arbeitswelt standen die Akteure während des Confinements vor der Herausforderung, mit den jugendlichen Auszubildenden bzw. den Jugendlichen in den Arbeitsmaßnahmen weiter in regelmäßigem Kontakt zu bleiben. Die digitalen Techniken und Kompetenzen, die hierzu notwendig waren, hätten sich die oftmals gering qualifizierten Jugendlichen und ihre Betreuer erst während der Pandemie angeeignet, so die Befragten. Das vorrangige Ziel der arbeitsbezogenen Dienste sei in dieser Zeit die Aktivierung der Jugendlichen und dadurch die Aufrechterhaltung ihrer Erwerbsfähigkeit gewesen, während Aspekte des Wohlbefindens und der Gesundheit auch in der Pandemie eher zweitrangig geblieben seien.

Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf feldübergreifende Diskurse

Mit Blick auf mögliche Veränderungen in den gesundheitsbezogenen Diskursen thematisieren die Experten auch die Rolle, die den Jugendlichen im gesellschaftlichen Diskurs über die Covid-19-Pandemie zugewiesen wurde. Dabei lassen sich zwei gegenläufige Diskurse identifizieren. Im ersten Diskurs wird den Jugendlichen durch ihr „unverantwortliches und leichtfertiges“ Verhalten eine Mitschuld an der Verbreitung des Virus gegeben. Diese Diskursposition sei besonders zu Beginn der Pandemie relativ weit verbreitet gewesen und auch von Lehrerlobbys genutzt worden, um gegen eine frühzeitige Wiedereröffnung der Schulen zu argumentieren. Hierbei wurden der somatischen Gesundheit und der Aufrechterhaltung der Wirtschaft vor der psychischen Gesundheit und der Bildung Priorität eingeräumt. In der Folge seien Schulen früh geschlossen und Spielplätze spät geöffnet worden.

„Also am Ufank war et jo esou, dass een hätt bal kënnen mengen, dass d‘Kanner quasi d‘Vecteuren sinn vun der Pandemie. Also, d‘Kanner waren quasi geféierlech. Dat huet schonn och bei Kanner deelweis eppes gemaach am Eenzelen. Dass si quasi d‘Träger vun der Gefor waren. […] mat der Zäit […] huet deen Discours sech dann awer geännert.

(Exp. GD 2-4, 108:17)

Ein zweiter Diskurs, der nach der ersten Phase des Confinements an Aufmerksamkeit gewann, bezieht sich aus Sicht der Experten stärker auf die Bedeutung der Bildungseinrichtungen und hebt ihre Funktion in der Sicherstellung gleichverteilter gesellschaftlicher Teilhabechancen für alle Jugendlichen hervor. Schulen und nonformale Aktivitäten werden hierbei als notwendige Sozialisationsorte für Kinder und Jugendliche thematisiert. Der Diskurs, der besonders von Kinderärzten und dem Bildungsministerium unterstützt wurde, kennzeichnet die Beschränkungsmaßnahmen für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen als einen schwerwiegenden Einschnitt in ihr Leben und ihre Entwicklung, da sie in dieser Entwicklungsphase die sozialen Kontakte mit Peers und Bezugspersonen brauchten.

Über die vier untersuchten Felder hinweg verweisen die Experten darauf, dass den Jugendlichen durch die spezifischen Maßnahmen während des Confinements ein gewisser Grad an Normalität und Sicherheit vermittelt werden sollte, um hierdurch einen Gegenpol zu der bestehenden Unsicherheit der Pandemie zu setzen. Viele professionelle Fachkräfte hätten in dieser Zeit die Aufrechterhaltung der Beziehungen zu den Jugendlichen und ihre Begleitung in den Vordergrund ihrer Arbeit gestellt.

Allerdings wäre ohne die digitalen Techniken eine Fortführung der Betreuung der Jugendlichen und ihrer Familien in keinem Feld möglich gewesen. Trotzdem wird diese als zum Teil rasant beschriebene technische und digitale Entwicklung aus Sicht der Befragten nicht durchgehend positiv gesehen. Demnach bestehen weiterhin Diskussionen über die Risiken der Digitalisierung für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Jugendlichen. Die zurückhaltende Position in Bezug auf die digitalen Techniken basiert nach Meinung einiger Befragter auf einer noch mangelnden Kenntnis und digitalen Kompetenz des professionellen Fachpersonals in einigen Feldern und den ungleichen Zugangsmöglichkeiten bestimmter Gruppen zu digitalen Medien. Auch wenn die meisten Experten die Chancen der digitalen Entwicklung für Bildung, Arbeit und persönliche Netzwerke thematisieren, hat die Pandemie ihrer Meinung nach die Wichtigkeit der realen sozialen Kontakte im Privaten und in den Institutionen gezeigt.

Über alle Felder hinweg wird die Kommunikation von korrekten, faktenbasierten und verständlichen Informationen als Voraussetzung für die gute Umsetzung der Maßnahmen und das Vermitteln von Sicherheit gesehen. Verschwörungstheorien erscheinen in einer komplexen Realität aus Sicht der Befragten oft als die einfachsten Erklärungsmodelle, die erst durch medienpädagogische Weiterbildungen und die Unterstützung einer reflexiven Haltung bei den Jugendlichen aufgedeckt werden könnten. Aus Sicht der Experten wurden die Informationen zur Pandemie in den Medien und durch die offiziellen Kanäle überwiegend nicht kinder- und jugendgerecht dargestellt und hätten sich kaum auf die Interessen der Kinder und Jugendlichen fokussiert.

„An wann een wëll higoen, an dat Ganzt als eng Normalitéit vermëttelen, dann misst een ganz sécher och Messagen iwwerdenken.

(Exp. GD 2-5, 108:120)

Trotz der Annahme, dass ein gesundes Leben und Wohlbefinden vor allem auf der Bereitstellung von Handlungsmöglichkeiten basieren, die Jugendliche eigenverantwortlich umsetzen können, konnten die Experten in den Gruppendiskussionen nur wenige konkrete Partizipationsmöglichkeiten der Jugendlichen während der Pandemiezeit aufzeigen. Als ein Beispiel wurde ein Aufruf von Jugendorganisationen zur solidarischen Hilfe der Jugendlichen für vulnerable Gruppen genannt, der medial viel erwähnt wurde und der den Jugendlichen erlaubte, Selbstwirksamkeitserfahrungen zu generieren. Auch internationale Studien verweisen darauf, dass die Beteiligung der Jugendlichen bei der Ausarbeitung der gesellschaftlichen Maßnahmen nicht nur zu einer größeren Akzeptanz, sondern auch zu inklusiveren Maßnahmen führen kann (siehe auch OECD, 2020b). Dass sich die Jugendlichen dennoch nur wenig einbringen konnten, erklärt sich aus Sicht der Experten dadurch, dass die ersten sechs Monate der Pandemie durch einen enormen Zeitdruck geprägt waren und schnell mit adäquaten Maßnahmen auf die Entwicklungen der Pandemie reagiert werden musste. Eine Beteiligung der Bevölkerung sei daher insgesamt eher sehr schwierig gewesen.

„Awer insgesamt, mengen ech, dass d‘Pandemie effektiv net, net do seng Stäerkten hat, also d‘Pandemiebewältegung duerch d‘Politik, duerch Servicer, Administratiounen, Acteuren, huet net dozou gefouert, dass e Jonken do méi eng Stëmm krut.

(Exp. GD 1-5, 107:289)