Exkurs: Was Schuluntersuchungen und Krankenhausaufenthalte über die Gesundheit von Jugendlichen aussagen
Schuluntersuchungen und Statistiken zu Krankenhausaufenthalten geben gute Hinweise auf die gesundheitliche Situation junger Menschen. Deshalb haben wir die verfügbaren Statistiken für den Jugendbericht ausgewertet und stellen die Ergebnisse in diesem Abschnitt dar.
Gerade bei Heranwachsenden ist es wichtig, Krankheiten oder gesundheitlich bedenkliche Entwicklungen früh zu erkennen, um rechtzeitig gegensteuern und Schäden verhindern zu können, die unter Umständen ein ganzes Leben lang bleiben. Schulmedizinische Untersuchungen sind deshalb besonders wichtig. Die daraus resultierenden Daten zeigen: Bei fast der Hälfte aller Schülerinnen und Schüler wird in einer schulmedizinischen Untersuchung eine Erkrankung oder zumindest ein gesundheitliches Defizit festgestellt. Das sind vor allem chronische Erkrankungen (zum Beispiel Allergien) oder Erkrankungen des Bewegungsapparates (also zum Beispiel Rückenschmerzen oder der klassische Plattfuß). Dafür suchen die Jugendlichen ärztlichen Rat und Behandlung – und bekommen sie im luxemburgischen Gesundheitswesen auch.
Schaut man sich die Daten zu Krankenhausaufenthalten an, stellt man fest, dass die Zahl der Tage, die Menschen im Alter zwischen 12 und 30 Jahren im Krankenhaus verbringen, zwischen 2008 und 2016 deutlich zurückgegangen ist. Das kann auch darin begründet sein, dass Krankenhäuser immer effizienter arbeiten müssen und ihre Patienten weniger lange im Haus behalten. Die Daten zeigen zudem, dass Mädchen und junge Frauen mehr Zeit im Krankenhaus verbringen, als Jungen und junge Männer. Das hat seinen Grund vor allem in Schwangerschaften und Geburten – die ja nun wahrlich keine Krankheiten sind. Störungen der Psyche und des Verhaltens sorgen für einen Großteil der Tage, die junge Menschen im Krankenhaus bleiben: Sie haben oft eine lange Behandlungsdauer.
Nachdem im vorherigen Abschnitt vorgestellt wurde, wie Jugendliche ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit bewerten, werden im Folgenden Sekundärdaten zur Morbidität präsentiert. Dabei handelt es sich um Daten der schulmedizinischen Untersuchungen an Sekundarschulen sowie um Daten zur Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Diese Daten bilden einen großen Teil der Zielgruppe des Jugendberichtes ab, da nahezu alle Schüler schulmedizinische Untersuchungen durchlaufen und auch fast alle in Anspruch genommenen medizinischen Leistungen der IGSS gemeldet werden. Ein Vorteil ist, dass schulmedizinische Untersuchungen standardisiert sind, so dass sich die Daten gut für quantitative Vergleiche eignen. Die Daten der IGSS beruhen auf abrechenbaren Leistungen, die ebenfalls zwischen verschiedenen Gruppen vergleichbar sind. Diesen Vorteilen stehen aber auch Nachteile gegenüber. Die Standardisierung schulmedizinischer Untersuchungen bedeutet, dass diese Untersuchungen nur einen bestimmten Ausschnitt der Gesundheit erfassen. Sie sind nicht darauf ausgelegt, die Gesundheit eines Schülers individuell und in allen Aspekten zu erheben. Bei den IGSS-Daten zur Inanspruchnahme ist zu beachten, dass ihr Zweck die Abrechnung medizinischer Leistungen ist; epidemiologische Aussagen sind daher nur mit Einschränkungen möglich (Jacob, 2006). Eine Einschränkung ist beispielsweise, dass die Abrechnungsdaten niedergelassener Ärzte ohne Angaben zur Diagnose übermittelt werden. Somit kann zwar analysiert werden, welche Arztgruppen welche Leistungen erbringen, aber es bleibt unklar, wie sich das Krankheitsgeschehen entwickelt.
Ergebnisse der Schuluntersuchungen
Zentrale Aufgaben der Direction de la Santé sind der Schutz und die Förderung der Gesundheit auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene, wozu unter anderem die Durchführung von Programmen zur Prävention gehört (Chambre des Députés, 2015). Maßnahmen zur Verhinderung von Krankheiten (z. B. Impfungen als Primärprävention) und zur Früherkennung von Krankheiten (z. B. Screenings als Sekundärprävention) sind im Kindes- und Jugendalter von besonderer Bedeutung. Schuluntersuchungen der Médicine scolaire fallen in beide Bereiche, da bei diesen Untersuchungen zum einen Krankheiten und Risikofaktoren für Krankheiten frühzeitig entdeckt werden sollen und zum anderen der Impfstatus überprüft wird.
In Tabelle 6 ist für die Schuljahre 2007/08 bis 2018/19 aufgeführt, wie viele der schulmedizinischen Untersuchungen von Sekundarschülern zu einer Benachrichtigung der Eltern über ein Gesundheitsproblem führten (Avis). Diese Anteilswerte wurden den Aktivitätsberichten des Ministeriums für Gesundheit entnommen, wobei der Anteil der Avis nicht systematisch für jedes Schuljahr seit 2007/08 berichtet wurde.
Bei den Daten ist zu beachten, dass sich das Untersuchungsprogramm und die Berichtsweise im Zeitverlauf geändert haben. Dementsprechend können Änderungen im Zeitverlauf nicht ohne Weiteres verglichen werden. So ist der starke Anstieg der Avis vom Schuljahr 2017/18 auf das Schuljahr 2018/19 zu einem großen Teil darauf zurückzuführen, dass sich die Impfempfehlungen in dieser Zeit geändert haben. Dies führte dazu, dass bei deutlich mehr Schülern als in den Vorjahren der bestehende Impfstatus als nicht mehr ausreichend bewertet wurde und ihnen entsprechende Anpassungen empfohlen wurden. Besser vergleichbar als die Unterschiede im Zeitverlauf sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und den Schulzweigen. Zunächst fällt auf, dass der Anteil der Avis in jedem Schuljahr bei Schülern des enseignement secondaire classique (klassischer Sekundarunterricht [ESC]) niedriger war als im gleichen Jahr im enseignement secondaire technique (technischer Sekundarunterricht [EST]) – im Jahr 2017/18 betrug der Unterschied über 20 Prozentpunkte –, was auf einen deutlich besseren Gesundheitszustand der Schüler des ESC schließen lässt. Diesem Unterschied in den medizinischen Diagnosen zwischen ESC und EST entsprechen die Ergebnisse der HBSC-Befragung. Auch hier ist bei einer großen Zahl von Gesundheitsindikatoren festzustellen, dass Schüler des EST (bzw. aktuell des enseignement secondaire général, ESG; allgemeiner Sekundarunterricht) schlechtere Ergebnisse erzielen als Schüler des ESC (Heinz, van Duin, et al., 2020) .
Des Weiteren geht aus Tabelle 6 hervor, dass bei den schulmedizinischen Untersuchungen bei Jungen fast in jedem Jahr häufiger Gesundheitsprobleme festgestellt werden als bei den Mädchen.
Neben dem Anteil der Avis wird in den Aktivitätsberichten des Ministeriums für Gesundheit auch aufgeführt, welche Diagnose gestellt wurde. Im aktuellen Bericht für das Schuljahr 2018/19 war das Tragen einer Sehhilfe (vue corrigée) die häufigste Diagnose (37,7 %), gefolgt von unvollständigen Impfungen (32,1 %), Problemen des Bewegungsapparates (20,6 %), chronischen Krankheiten (14,3 %) und Krankheiten der Zähne (13,7 %); alle anderen Nennungen betreffen jeweils weniger als 10 % der Schüler.
Zusammenfassend zeigen die Aktivitätsberichte, dass die schulmedizinischen Untersuchungen in jedem Jahr zum Teil deutlich seltener zu einem Avis bei Schülern des ESC führen als bei Schülern des damaligen EST (heute ESG). Die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen sind demgegenüber gering und können zumindest zum Teil auf das umfangreichere Untersuchungsprogramm der Jungen zurückgeführt werden. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass im Schuljahr 2017/18 bei mehr Schülern ein Gesundheitsproblem festgestellt wurde als noch im Jahr 2007/08. Unklar ist jedoch, inwieweit dieser Anstieg auf höhere Prävalenzen oder auf eine Ausweitung des Untersuchungsprogramms zurückzuführen ist. Eine weitere Einschränkung der vorgestellten Statistiken ist, dass die Ergebnisse aufgegliedert für die Schulzweige ESC und EST ausgewiesen werden, wohingegen die Ergebnisse für die Schüler der damaligen Éducation Différenciée nicht separat ausgewiesen werden – eine Gruppe, die im Schuljahr 2016/17 immerhin 875 Schüler umfasste (Lenz & Heinz, 2018).
Inanspruchnahme medizinischer Leistungen
Die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen ist ebenfalls ein Indikator der Gesundheit. Die für den Jugendbericht zur Verfügung gestellten IGSS-Daten basieren auf den bei der Caisse Nationale de Santé (CNS) eingereichten Rechnungen, die bis zu zwei Jahre nach deren Ausstellung erstattet werden können. Daher liegen die Daten der Behandlungen eines Jahres erst mit einer entsprechenden Verzögerung vor, so dass hier Daten des Jahres 2017 und vorheriger Jahre präsentiert werden.
Krankenhausaufenthalte
Ein Indikator für die gesundheitliche Situation der luxemburgischen Jugend sind Krankenhausaufenthalte. Zu den Aufenthalten im Inland werden von der IGSS neben soziodemografischen Daten und der Dauer des Aufenthalts auch die Hauptdiagnosen erfasst, die mit Hilfe der International Classification of Diseases (ICD-10) codiert werden (WHO, 2011). Neben stationären Aufenthalten werden von der IGSS auch ambulante Behandlungen im Krankenhaus erfasst, wobei eine Behandlung als ein Belegungstag verbucht wird. Bei Krankenhausbehandlungen von Versicherten im Ausland werden hingegen weniger Daten erfasst.
Aus den IGSS-Daten geht hervor, dass bei den Versicherten im Alter von 12 bis 30 die Zahl der Belegungstage im Inland zwischen 2008 und 2016 in der Tendenz zurückging, obwohl die Zahl der versicherten Personen in dieser Altersgruppe leicht gestiegen ist. Somit verbrachte ein Versicherter im Jahr 2008 durchschnittlich mehr Tage im Krankenhaus als ein Versicherter im Jahr 2016. Dies entspricht den schon lange anhaltenden Trends, die in der gesamten EU zu beobachten sind: die Gesundheitsversorgung effizienter zu gestalten durch eine Verringerung der Bettenzahl in Krankenhäusern und kürzere Aufenthaltsdauern (Berthet et al., 2015; European Observatory on Health Care Systems, 1999) . Der Rückgang der Belegungstage in Krankenhäusern ist daher kein Beleg für einen Rückgang der Morbidität, sondern spiegelt einen weit verbreiteten Trend im Bereich der Krankenhausversorgung wider.
Aus der Statistik der Belegungstage geht auch hervor, dass Mädchen und Frauen in allen Jahren mehr Belegungstage aufwiesen. Das ist vor allem auf die vielen Diagnosen der Kategorie „andere/nicht klassifiziert (AU/NR)“ zurückzuführen, worunter auch Krankenhausaufenthalte während der Schwangerschaft und Geburt fallen. Männer weisen hingegen deutlich mehr Krankenhaustage auf, die unter die ICD-Codes F („Psychische und Verhaltensstörungen“) und S/T („Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen“) fallen. Diagnosen unter N („Krankheiten des Urogenitalsystems“) und unter E („Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten“) führen wiederum bei Frauen zu mehr Belegungstagen.
Laut der Statistik ist ein Großteil der Belegungstage somit auch durch Störungen der Psyche und des Verhaltens begründet. Dieser hohe Anteil ist jedoch nicht außergewöhnlich und ließ sich auch u. a. bei amerikanischen Jugendlichen beobachten (Garrison et al., 2004). Der Grund hierfür liegt weniger in der Häufigkeit psychischer Erkrankungen, sondern vielmehr in der oftmals deutlich längeren Behandlungsdauer von psychischen Erkrankungen im Vergleich zu der der meisten anderen Erkrankungen. Die Anzahl der Patienten ist im Vergleich zu der der anderen Krankheiten entsprechend geringer.
Zusammenfassend zeigt die Statistik somit einen Rückgang der Belegungstage, der vor allem dadurch bedingt ist, dass Krankenhausaufenthalte heute im Durchschnitt kürzer ausfallen als noch vor wenigen Jahren. Auf Mädchen und Frauen entfallen zwar insgesamt mehr Belegungstage, was aber zu einem großen Teil auf Schwangerschaften und Geburten zurückzuführen ist. Nahezu die Hälfte der Belegungstage entfällt auf psychische und Verhaltensstörungen, weil diese Störungen ungefähr 5-mal längere Behandlungsdauern als die anderen Krankheiten nach sich ziehen. Abgesehen von der Sammelkategorie „andere/nicht klassifiziert“ kommt keine andere ICD-Kategorie auf einen Anteil von mehr als 7 % an den Belegungstagen. Somit kann festgehalten werden, dass psychische und Verhaltensstörungen zwar nicht bezogen auf ihre Häufigkeit dominieren; aber gemessen in Behandlungstagen im Krankenhaus verursachen sie die weitaus größte Krankheitslast.
Inanspruchnahme von erstattungsfähigen Psychotherapien
Im vorherigen Abschnitt hat die Statistik der Krankenhausbelegungstage die große Bedeutung von psychischen und Verhaltensstörungen im Bereich der Krankenhäuser gezeigt. Es ist allerdings schwieriger, anhand der IGSS-Daten die Bedeutung dieser Störungen außerhalb des Bereichs von Krankenhäusern zu bewerten. Patienten, die bei Psychologen in Behandlung sind, werden statistisch nicht erfasst, da diese Leistungen nicht von der CNS erstattet werden. Ebenfalls nicht erfasst werden psychotherapeutische Leistungen, die beispielsweise durch die Aide à l’Enfance et à la Famille erbracht werden. In die Statistik zur Inanspruchnahme von erstattungsfähigen Psychotherapien (siehe Abbildung 19) sind nur diejenigen Personen aufgenommen worden, die eine erstattungsfähige Psychotherapie erhalten haben. Die Grafik zeigt, getrennt nach Geschlecht, wie viele Personen im Alter von 12 bis 30 Jahren in den Jahren 2008 bis 2017 eine Psychotherapie erhalten haben. Diese Zahl ist in fast jedem Jahr gestiegen, wobei Frauen jeweils etwas häufiger in Psychotherapie waren. Zusätzlich ist in der Grafik ausgewiesen, wie hoch der Anteil der Personen in Psychotherapie bezogen auf den Anteil der gleichaltrigen Versicherten war (wobei die entsprechenden Angaben für das Jahr 2008 fehlen). Da die Zahl der Versicherten im Zeitverlauf ebenfalls größer wurde, ist der Anteil der Versicherten in Psychotherapie nur geringfügig gestiegen, von 3,0 % im Jahr 2009 auf maximal 3,4 % im Jahr 2016 und 3,3 % im Jahr 2017.
Dieser Trend kann durchaus ein Indikator für eine Zunahme psychischer Erkrankungen sein. Eine solche Zunahme würde dem Trend in der Gesamtbevölkerung in der WHO-Region Europa entsprechen (WHO, 2018). Allerdings sollten weitere Indikatoren diesen Befund bestätigen. Denn eine Zu- oder Abnahme der Personen in psychotherapeutischer Behandlung kann auch in einer sich ändernden Behandlungsbereitschaft und -kapazität begründet sein.
Zusammenfassend zeigen die schulmedizinischen Untersuchungen, dass ein nennenswerter Anteil der Schüler von Krankheiten betroffen ist, wobei Schüler des damaligen EST häufiger betroffen sind als Schüler des ESC. Die Zahl der Krankenhausbelegungstage ist von 2009 bis 2016 leicht gesunken, was dem verbreiteten Trend zu kürzeren Aufenthaltsdauern entspricht, der in vielen Ländern zu beobachten ist. Generell sind Daten zur Inanspruchnahme medizinischer Leistungen vorsichtig zu interpretieren, da sie auch Veränderungen in der Behandlungsbereitschaft oder der vorhandenen Kapazitäten spiegeln. Dementsprechend gilt, dass der Anstieg des Anteils der Jugendlichen in psychotherapeutischer Behandlung auch darin begründet sein kann, dass sich mehr Personen in entsprechende Behandlungen begeben möchten und sie auch erhalten.