8. Wie Experten über das Wohlbefinden und die Gesundheit Jugendlicher diskutieren

8.2.2. Wohlbefinden und Autonomieförderung durch Partizipation: Zur Förderung von Wohlbefinden in der Jugendarbeit

Auch in der Jugendarbeit findet ein Diskurs über Gesundheit und Wohlbefinden im Kontext einer zunehmend ganzheitlichen Form von Bildung statt, mit dem Ziel, „(Kinder und) Jugendliche bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu unterstützen“ und ihnen eine autonome Lebensführung in möglichst allen Lebensbereichen zu gewährleisten“ (Hartmann et. al, 2018, 54:3). Dieser Diskurs über die Befähigung und Selbstbildung der jungen Menschen im Feld der Jugendarbeit bezieht sich unter anderem auch auf die gesundheitsbezogene Entwicklung und Bildung sowie auf die Förderung von Wohlbefinden. Das Verständnis von Wohlbefinden und Gesundheit ist dabei eng mit Konzepten der Autonomieförderung, des Empowerments und der Partizipation verbunden.

Wohlbefinden und nonformale Bildung im nationalen Bildungsrahmenplan

Mit der gesetzlichen Einführung des nationalen Bildungsrahmenplans im Jahr 2016/2017 hat sich das Verständnis von Jugendarbeit als eine subjekt- und interessensbezogene nonformale Bildung, die im umfassenden Sinne der WHO auch die Förderung personaler, sozialer und kultureller Ressourcen impliziert, in Luxemburg weiter durchgesetzt (74:34). Hierbei werden zentrale Aspekte des Wohlbefindens, wie etwa die Umsetzung von Verwirklichungschancen zur Gestaltung der eigenen Lebenswelt, die Orientierung an den Ressourcen der Jugendlichen oder die Förderung von Autonomie und Verantwortung, als zunehmend wichtige nonformale Bildungsziele hervorgehoben.

„Für ihr Wohlbefinden sind Kinder und Jugendliche auf die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse angewiesen: Diese beziehen sich auf physiologische Bedürfnisse wie Ernährung, Ruhe und Bewegung, auf Sicherheit, Schutz und Geborgenheit. Zunehmend wird die Möglichkeit der Selbstverwirklichung wichtig.

(Hartmann et. al, 2018)

In diesem genuin bildungsorientierten Diskurs wird der Jugendarbeit durch ihren offenen und niedrigschwelligen Zugang zu den Jugendlichen ein besonders hohes Potenzial dahingehend zuerkannt, Jugendliche für ihren Körper, ihre Gesundheit und ihr allgemeines Wohlbefinden zu sensibilisieren (Hartmann et. al, 2018, 54:3). Ansätze der Gesundheitsförderung im pädagogischen Alltag der Jugendarbeit dienen unter dieser Prämisse auch dazu, jungen Menschen frei gestaltbare Räume für die emotionale, kognitive sowie soziale Bildung und Entwicklung zur Verfügung zu stellen.

Das dem nationalen Bildungsrahmenplan zugrundeliegende Bild des Kindes und des Jugendlichen transportiert dieses befähigende Bildungsverständnis, in dem Kinder und Jugendliche als „Ko-Konstrukteure von Wissen, Identität, Kultur und Werten“ betrachtet werden (ebd.). Dabei werden sie explizit als eigenständige Akteure anerkannt, die sich in den unterschiedlichen Feldern und Angeboten der nonformalen Bildung selbst verwirklichen können.

Niederschwellige und partizipative Ansätze der Förderung von Gesundheit und Wohl- befinden in der Praxis

Wie die Analyse der Daten zeigt, werden die Unterstützungsstrukturen für das Wohlbefinden in der Praxis (offener oder verbandlicher) Jugendarbeit vielfach über die Bereitstellung von niedrigschwelligen Strukturen und Settings organisiert, in denen Jugendliche in Begleitung professioneller Fachkräfte personale, soziale und kulturelle Ressourcen und Handlungskompetenzen erwerben können. Dazu gehört etwa das Wissen über gesunde Ernährung, über Beziehungserfahrungen zu Erwachsenen und Gleichaltrigen oder über den gesundheitsfördernden Wert von Freizeitaktivitäten. Die Initiierung von (Selbst-)Bildungsprozessen erfolgt hier meist über aktive Lernerfahrungen in gemeinsamen Aktivitäten und den kommunikativen Austausch mit Erziehern und Peers, durch den Aspekte des gesundheitsförderlichen Verhaltens oder Informationen über ein bestimmtes Risikoverhalten vermittelt werden. Dabei stehen jugendrelevante Themen wie Bewegung und gesunde Ernährung, Familie, emotionale Stabilität oder Suchtprävention im Vordergrund.

„Ech këmmeren mech bei eis och ëm d‘Jugendhaiser an do touchéieren mer natierlech am Alldag déi Sujeten. Also wann et elo nëmmen ëm Suchtpräventioun oder psychesch a mental Gesondheet geet, emotional Stabilitéit, gesond Ernärung, Beweegung an dat, sinn dann schonn alles Konzepter, déi op eng Gesondheetsfërderung ausgeriicht sinn.

(Exp3, 76:6)

Besonders die niedrigschwelligen Angebote werden in den Fachdiskursen als bedeutende pädagogische Settings betrachtet, über die sich Jugendliche gesundheitsrelevante Werte und Verhaltensnormen aktiv aneignen können und die die Ausbildung von sozialem und kulturellem Kapital (als gesundheitsbezogenen Ressourcen) unterstützen (Bourdieu, 1983). Wie die Jugendbefragung zeigen konnte, schätzen die Jugendlichen in solchen Settings besonders die vertrauensvolle Beziehung zu den professionellen Fachkräften sowie den informellen und offenen Austausch mit anderen Jugendlichen (vgl. Kapitel 4.2). Die Förderung von Wohlbefinden wird in diesem Umfeld demnach besonders über den Aufbau von Vertrauensbeziehungen und über gemeinschaftliche Interaktionen und Erfahrungen gewährleistet.

Gesundheitsförderung erfolgt im Feld der Jugendarbeit insgesamt zudem stärker als anderswo über situative Ansätze sowie durch die aktive Mitwirkung der Jugendlichen an den Entscheidungen des pädagogischen Alltags. Diese Prinzipien liegen u. a. auch den im Jugendbereich zur Anwendung kommenden nationalen Aktionsplänen Gesond iessen – Méi beweegen oder dem Projekt BEE SECURE des SNJ zur Förderung einer sichereren Nutzung des Internets und der neuen Kommunikationstechnologien zugrunde. Bei der Umsetzung dieser Aktionspläne ergänzen sich die Konzepte der Prävention und Gesundheitsförderung und die partizipativen Ansätze: Während die Prävention sich auf die Vermeidung und Verringerung von gesundheitsbezogenen Risikofaktoren (z. B. durch unkontrollierte Internetnutzung) bezieht, sind die Ansätze der Gesundheitsförderung auf die Entwicklung von personalen und sozialen Schutzfaktoren ausgerichtet und zeigen sich im Praxisalltag in Form eines breiten Angebots an Informationen, Sensibilisierungsaktivitäten oder konkreten gesundheitsbezogenen Projekten und Aktivitäten.

Hilfen zur Bewältigung gesellschaftlicher Veränderungen und Belastungen in der Jugendarbeit

Mehr als in den anderen Feldern befasst sich der gesundheitsbezogene Diskurs in der Jugendarbeit auch mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zur Förderung von Wohlbefinden und Gesundheit. Dabei werden etwa die Auswirkungen der Digitalisierung und eine als zunehmend „virtuell“ wahrgenommene Sozialisation Jugendlicher thematisiert, ebenso wie die fortschreitende außerfamiliale „Institutionalisierung von Kindheit und Jugend“ und das veränderte Rollenverständnis von Eltern und Erziehungsagenten (60:6;74:79;77:16;78:50). Diese Phänomene des gesellschaftlichen Wandels werden einerseits hinsichtlich ihrer Folgen für das gegenwärtige und zukünftige Aufwachsen der jungen Generation reflektiert sowie andererseits diskutiert mit Blick auf das Selbstverständnis der Jugendarbeit und ihre künftige Möglichkeit, für alle Jugendlichen gleichermaßen gesundheitsfördernde Settings bereitzustellen.

Aus den Experteninterviews wird in diesem Zusammenhang deutlich, dass das professionelle Handlungsfeld der Jugendarbeit insgesamt in der jüngeren Vergangenheit eine Ausweitung auf die Themen von Jugendlichen in prekären Lebensverhältnissen erfahren hat und somit vermehrt Aufgaben aufgreift, die sich in die Nähe der Jugendsozialarbeit rücken lassen (74:82; 82:13).

„Virdrun, wéi gesot, war méi sou e Kader Famill klassesch an elo ass et awer, dir hutt déi Familles recomposées, dir hutt deen, deen sech getrennt huet […] oder dir hutt eng Mamm, déi eleng ass, dat heescht, den Kader ronderëm ass anescht.

(Exp6, 78:67)

Mehr als zuvor scheint es in diesem Feld heute von Bedeutung zu sein, jenen Jugendlichen Ressourcen und Verwirklichungschancen bereitzustellen, die mit gesellschaftlichen und familiären Benachteiligungen konfrontiert sind, d. h. die häufig allein sind, im Elternhaus wenig Unterstützung erhalten oder bei der Bewältigung von körperlichen, sozialen und psychischen Entwicklungsaufgaben kaum emotionalen Rückhalt im sozialen Nahraum finden.

Eine wichtige gesundheitsbezogene Aufgabe der Jugendarbeit wird in diesem Kontext darin gesehen, dass sie die strukturellen Rahmenbedingungen und Ressourcen für die Stärkung der Autonomie und die Resilienz junger Menschen – auch und gerade unter risikoreichen Lebensbedingungen – bereitstellt.