8.2.3. Emotionale Sicherheit und Resilienzförderung als Grundelemente von Wohlbefinden in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe
Die Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel verweisen darauf, dass besonders Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien- und Lebensverhältnissen über vergleichsweise geringere personale, soziale und familiäre Ressourcen und Schutzfaktoren verfügen und dass die Sicherstellung von Wohlbefinden diesen Jugendlichen daher weniger gut gelingt als jenen aus intakten Familien (vgl. Kapitel 4). Diese Wahrnehmung wird auch in den gesundheitsbezogenen Diskursen im Feld der luxemburgischen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe thematisiert.
Der im WHO-Verständnis beschriebene Zielzustand eines umfassenden „biopsychosozialen“ Wohlbefindens gilt aus Sicht der in diesem Feld befragten Experten besonders in Kontexten der Fremdunterbringung als kaum erreichbar (94:11). Sie gehen hier von einer „anderen“, d. h. eingeschränkten Form des Wohlbefindens aus, denn der Aufenthalt in einem Heim sei für die Jugendlichen in den meisten Fällen mit einer Belastungssituation verbunden.
„Natierlech ass [am Heem] eng aner Form vun Wuelbefannen hannendrun. Keen Jugendlechen wëll an engem Heem liewen, also hunn mer schonn en fundamentalen Problem vun Wuelbefannen. Dat ass an deem Ganzen dran.“
(Exp23, 94:11)
Weil diese Belastungen insgesamt häufig zu einer schlechteren gesundheitlichen Grundverfassung der Jugendlichen führen, werden auch die Verwirklichungs- und Gesundheitschancen fremduntergebrachter Jugendlicher insgesamt geringer eingeschätzt als etwa jene von Jugendlichen, die in intakten Familien aufwachsen. Emotionale Stabilität, verlässliche Vertrauensbeziehungen, Widerstandsfähigkeit und grundlegende Bewältigungskompetenzen müssen demnach bei fremduntergebrachten Jugendlichen häufig erst aufgebaut werden, um den Folgen einer langfristigen „Belastungskarriere“ (Dragano, 2007) erfolgreich begegnen zu können.
Der gesundheitsbezogene Diskurs im Feld der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe ist dementsprechend durch die Frage gekennzeichnet, ob und wie es in den entsprechenden Strukturen und Einrichtungen gelingt, besonders belastete Jugendliche dazu zu befähigen, ihren Alltag und ihre Lebenswelt aktiv zu gestalten, und so neben einem Gefühl der Selbstwirksamkeit auch das gesundheitsförderliche Verhalten positiv zu beeinflussen. Dabei werden institutionelle Maßnahmen der Gesundheitsförderung im Kontext niedrigschwelliger, gering formalisierter Maßnahmen der Alltagsbewältigung diskutiert.
Das Verständnis von Wohlbefinden und Gesundheit im Feld der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe ist in diesem Sinne zentral geprägt durch das Vermitteln von emotionaler Sicherheit (76:22), die Stärkung der Persönlichkeit sowie die Förderung von Resilienz und Autonomie in alltäglichen Belangen (3:21, 82:52). Diese Konzepte sind darauf ausgerichtet, Benachteiligungen im Lebensalltag zu vermeiden oder abzubauen, Vertrauensbeziehungen und positive Lebenserfahrungen zu entwickeln und dadurch eine nachhaltige Mobilisierung von individuellen Ressourcen im Sinne einer Resilienzförderung zu stärken.
Wie in anderen Feldern kennzeichnet sich der Diskurs auch hier (und besonders durch die Einführung des Gesetzes Aide à l’enfance et à la famille [AEF] zur Kinder-, Jugend- und Familienhilfe im Jahr 2008) durch eine Verschiebung weg von einer über lange Zeit bestehenden Defizitperspektive hin zu einer Ressourcenperspektive. Dieser Perspektivenwechsel soll dazu führen, Jugendliche stärker zu befähigen und zu ermutigen, ihre Lebenswelt aktiver mitzugestalten. Dabei erfährt die Prämisse „Das Kind bzw. der Jugendliche im Mittelpunkt“ auch in diesem Feld eine zunehmende Bedeutung.
Gesundheitsfördernde Konzepte, Strukturen und Maßnahmen
Der gesundheitsbezogene Diskurs im Feld der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe umfasst neben diesen inhaltlichen Aspekten auch strukturbezogene Positionen, die als Querschnittsthemen an den Grenzen zwischen Kinder- und Jugendhilfe, Medizin, Psychiatrie und Schule behandelt werden und die im Kern ebenfalls auf eine subjektorientiertere Arbeitsweise abzielen.
Entsprechende Diskurspositionen beziehen sich u. a. auf die Reformen des Psychiatriewesens und ihre Implikationen für das Wohlbefinden der Jugendlichen sowie für die Einführung neuer psycho- und soziotherapeutischer Zentren im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Die hierzu im Datenmaterial sichtbaren Diskurspositionen bewegen sich u. a. um die Frage nach einer erfolgreichen disziplinenübergreifenden Kooperation und Vernetzung im Sinne des subjektiven Hilfe-, Unterstützungs- oder Therapiebedarfs der Jugendlichen, die künftig in den dezentralisierten Systemen eine spezifische Unterstützung erhalten. Dabei werden das Aufbrechen bestehender Traditionen und disziplinärer„Versäulungen“ ebenso wie die gemeinsame Aushandlung unterschiedlicher Fach- und Begriffsverständnisse als zentrale Herausforderungen, aber auch als Chancen beschrieben.
„Fir dass déi Aarbecht kann geléngen, brauch et en Zesummewierken vun verschiddenen Acteuren, déi op verschiddenen Ebenen intervenéieren.“
(Exp10, 89:53)
Eine weitere, allerdings eher kontroverse Auseinandersetzung findet über die Neugestaltung der Jugendschutzbedingungen und des Jugendschutzgesetzes statt. Diese Kontroverse zwischen der Justiz und dem Feld der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe wird in den Fachmedien als „symptomatisch für eine spannungsgeladene Beziehung und einen jahrzehntelang schwelenden Dauerkonflikt in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe“ bezeichnet (43:1). Im Fokus dieser Debatte stehen Fragen zur Zuständigkeits- und Eingriffsregelung im Falle von Kindern und Jugendlichen, die in eine Notlage geraten sind.4 Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeiter kritisieren das gegenwärtige Jugendschutzgesetz: es sei aufgrund der hohen Entscheidungsmacht der Justiz bei der Bewertung von Gefährdungslagen für das Kindeswohl eher repressiv als schützend und unterstützend angelegt. Auch die Frage nach dem Umgang mit jugendlichen Straftätern wird in diesem Kontext neu bewertet.
Ähnlich wie in den anderen Untersuchungsfeldern zeigen diese Diskurspositionen im Feld der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, dass auch hier insgesamt eine Verschiebung weg von repressiven und paternalistischen Ansätzen hin zu einer stärker pädagogisch-fachlichen Orientierung an Ansätzen des Kindeswohls, der Partizipation und des Empowerments erfolgt.
4 Das bestehende Jugendschutzgesetz von 1992 (Chambre des Députés, 1992) enthält zahlreiche paternalistische Elemente, die künftig über die Jugendschutzreform verändert werden. So etwa der automatische Entzug des elterlichen Sorgerechts und der nach wie vor große Ermessensspielraum, den Richter bei der Verordnung von Erziehungsmaßnahmen genießen. Befürworter einer stärkeren Trennung zwischen dem Jugendgericht und den Institutionen der sozialen Arbeit verweisen hierzu auf Entwicklungen in Belgien, dessen Jugendschutzgesetz das 1992er-Gesetz ursprünglich inspirierte, wo aber mit der Schaffung eines starken Jugendamts die „Déjudiciarisation“ 2006 eingeläutet und umgesetzt wurde. Mit der Verabschiedung des Loi du 16 décembre 2008 relative à l’aide à l’enfance et à la famille wurde dieser Weg auch in Luxemburg eingeschlagen, allerdings räumt das AEF-Gesetz den Gerichten in Kinderrechtsfragen hier weiterhin den Vorrang vor dem Office National de l’Enfance ein (21:55; 40:4).