8. Wie Experten über das Wohlbefinden und die Gesundheit Jugendlicher diskutieren

8.2.4. Umgang mit erhöhten Belastungen: Wohlbefinden und Gesundheit im Arbeitsbereich

Die gesundheitsbezogenen Diskurse im Arbeitsbereich unterscheiden sich durch einige Aspekte von den vorbeschriebenen Diskursen in der Schule, der Jugendarbeit und in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe.

Phänomene von psychischer Belastung und Erkrankung durch Arbeit sind in Luxemburg ein viel diskutiertes Thema in den öffentlichen Debatten. Stichworte wie Burnout erscheinen dabei als Marker einer gesellschaftlichen Problematik unserer Zeit (Alsdorf et al., 2017). In der Regel wird in diesen Debatten davon ausgegangen, dass der Arbeit eine zentrale Bedeutung für die soziale Integration zukommt. Aber zugleich gehen von beruflich bedingtem Stress auch Krankheitsgefährdungen aus, die einerseits die Arbeitsabläufe sowie die Wertschöpfung von Unternehmen und Staaten negativ beeinträchtigen können (ebd.), andererseits aber auch die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden von Arbeitnehmern.

Aus diesem Grund sieht auch die Europäische Kommission die Sicherung von Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz als eine unverzichtbare Ressource zur Förderung der globalen Wettbewerbsfähigkeit (Europäische Kommission, 2020b). Die Datenanalyse zeigt, dass die luxemburgischen Akteure im Diskurs über Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz von diesem europäischen Diskurs beeinflusst sind (100:2). Entsprechende Bemühungen lassen sich sowohl in den Positionen der luxemburgischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter erkennen als auch in einigen politischen Diskurssträngen.

Mehr Aufmerksamkeit für Belastungen und Stress am Arbeitsplatz

Arbeitnehmerbezogene Diskursstränge gehen insgesamt davon aus, dass gesundheitsbelastenden und -gefährdenden Faktoren im Arbeitsbereich sowohl von politischer Seite als auch von Arbeitgeberseite (noch) zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dies trifft besonders auf die psychische Belastung und Erkrankung als Folge von Arbeitsdruck zu (91:25).5

Aus Sicht der befragten Experten werden psychische Belastungen und Probleme von Arbeitgeberseite – besonders häufig in klein- und mittelständigen Unternehmen – individualisiert und noch zu wenig als eine strukturelle, im Arbeitskontext der Mitarbeiter aufkeimende Problematik interpretiert. Neben Faktoren wie Zeitdruck, zu wenig Erholungszeit oder Schwierigkeiten mit Kollegen und Vorgesetzten werden gesundheitsbezogene Risiken für junge Menschen oft auch mit der Doppelbelastung von Beruf und Familie in Verbindung gebracht. Sie führen aus Sicht der Experten nicht selten zu psychischen Krisen „in der Mitte des Lebens“. Der Wunsch, eine ausgewogene Work-Life-Balance zu erreichen, wird in der luxemburgischen Gesellschaft besonders ausgeprägt wahrgenommen, weil sie durch eine vergleichsweise hohe Doppelverdienerquote charakterisiert ist.

„An dann huet een déi grouss Work-Life-Balance, déi gëtt méi problematesch, do gëtt dann een Drock, do gesäit een dass d’Uspanung, d’Balance eben, ass ëmmer méi schwéier, an doraus entsteet dann, dat ass fir Lëtzebuerg en ganz wichtegen Aspekt, fannen ech, gesinn ech ëmmer, dass d‘Belaaschtung duerch déi Duebelbelaaschtung, dass et mécht, dass d‘Leit manner zefridden sinn, och vill méi Burnout erliewen.

(Exp4, 75:16)

Druck und Stress im Arbeitsbereich werden in dieser Sichtweise auch durch die insgesamt stark fortgeschrittene Reglementierung und Professionalisierung in der Arbeitswelt erhöht. So werden die wachsenden Anforderungen von Qualitätsmanagement, der Dokumentation und der Prozeduralisierung von Arbeitsprozessen in einigen Branchen nicht nur als Qualifizierungsanforderungen oder Arbeitserleichterungen wahrgenommen, sondern auch als ein Mehraufwand und als eine beständig wachsende Anforderung, hinzuzulernen und mitzuhalten. Gerade für junge Menschen, die noch am Beginn ihres Berufslebens stehen, kann aus Sicht der Experten unter diesen Bedingungen ein immenser Erfolgs- und Leistungsdruck entstehen. Zur Entlastung dieser Situation werden von Seiten der Arbeitnehmervertreter neben strukturellen Maßnahmen und gesetzlichen Regulierungen auch eine Verbesserung der Information der Arbeitnehmer sowie mehr Sensibilisierungsarbeit vorgeschlagen.

In diesem Kontext werden die Versuche einiger Unternehmen, ihre Mitarbeiter über emotionale oder normative Strategien an das Unternehmen zu binden, eher kritisch diskutiert.

„Da soen d‘Leit eis: ‚Jo, mee déi hunn dach Kickeren do stoen!‘ […] si kënnen dann Schockela iessen, se kënnen schaffen wann se wëllen. Mee dat ass e bëssen dee Silicon-Valley-Effekt […]. Si verbréngen dann hir produktiv Zäit an Deeg dohannen […] An dat ass lo net ëmmer philanthropesch gesinn vum Employeur. […] déi Leit dann sech nëmmen nach identifizéieren mat hirem Betrib.

(Exp13, 83:21)

Die Regierung ihrerseits hat durch jüngst verabschiedete Gesetze in besonderem Maße die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützt.6 Sie verweist im Koalitionsabkommen für 2018 – 2023 zudem auf die hohe Bedeutung von Arbeitsschutzregelungen für Arbeitnehmer (Cahen et al., 2018) und diskutiert gegenwärtig weitere gesetzliche Regelungen, über die das Wohlbefinden am Arbeitsplatz verbessert werden kann (Arbeitszeitflexibilisierung, Verhinderung von Stress, Mobbing, Burnout).

Zum Verhältnis von Gesundheit und Ökonomie

Neben diesen arbeitnehmerbezogenen Diskurssträngen lässt sich ein arbeitgeberbezogener Diskursstrang rekonstruieren, in dem die Themen Gesundheit und Wohlbefinden stärker in einem ökonomischen Zusammenhang diskutiert werden. Diesem Diskurs kann etwa die Auseinandersetzung über die Vergabe des Labels „Entreprise socialement responsable“ durch die Union des Entreprises Luxembourgeoises (UEL) zugeordnet werden. Das Label zertifiziert die freiwillige Wahrnehmung sozialer und ökologischer Verantwortung durch Unternehmen. Es transportiert ein umfassendes Verständnis von Wohlbefinden, das sowohl auf die Sicherung der Gesundheit am Arbeitsplatz ausgerichtet ist als auch auf die Förderung eines angenehmen Arbeitsklimas und die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Institut national pour le développement durable et la responsabilité sociale des entreprises [INDR], 2019). Mit dem Label möchte der Arbeitgeberverband das Bewusstsein über gesundheitsbezogene Aspekte in den Betrieben erhöhen und zugleich Anreize dafür setzen, dass von Arbeitgeberseite (neben den bestehenden Maßnahmen des Arbeitsschutzes) weitere Anstrengungen zur Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden in den Betrieben unternommen werden.

In den Diskurspositionen der Arbeitgebervertreter zu gesundheitsfördernden Aspekten werden freilich auch die ökonomischen Faktoren betont und es wird auf die Zusatzkosten hingewiesen, die durch Maßnahmen der Gesundheitsförderung für Unternehmen entstehen (können). So plädiert etwa die Fédération des Artisans u. a. für einen Weiterbestand von Kontrollen bei bestimmten Krankmeldungen, um so die damit verbundenen Kosten für die Betriebe besser kontrollieren zu können (Fédération des Artisans, 2013). Im Kontext der Diskussion über die Flexibilisierung der Arbeitszeit und über eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird auch auf die organisatorischen und finanziellen Herausforderungen für klein- und mittelständige Betriebe verwiesen.

„Während Arbeitnehmer ihre berufliche Tätigkeit immer flexibler um ihr Leben herum organisieren können, stehen vor allem kleine und mittelständische Unternehmen vor massiven Problemen, ihren Geschäftsbetrieb noch irgendwie am Laufen zu halten.“7

Neben arbeitsfeld- und organisationsbezogenen Aspekten der Gesundheit und des Wohlbefindens von jungen Arbeitnehmern wird in den Diskursen der Arbeitgeber stets auch auf allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen verwiesen. So wird eine Zunahme von sozialen Problemen in der Gesellschaft wahrgenommen, die insgesamt zu höheren Belastungen auch im Arbeitsbereich führe. Veränderte Familienverhältnisse sowie ein spürbar zunehmender gesellschaftlicher Druck hätten in den vergangenen Jahren zu einem vermehrten Aufkommen an mentalen Gesundheitsproblemen bei jungen Menschen geführt. Auch seien soziale und personale Kompetenzen bei bestimmten Jugendlichen in den vergangenen Jahren stetig zurückgegangen (91:25). Hier wird auf die besondere Anstrengung vieler Handwerksbetriebe verwiesen, die gerade vor diesem Hintergrund (häufiger als in anderen Branchen) Verantwortung für die Gesundheit und das Wohlbefinden von Jugendlichen übernehmen müssten (95:4).

Wunsch nach Kooperation und Vermittlung

Zwischen diesen beiden eher konträren Diskurspositionen gibt es vermittelnde Positionen. Hier steht vor allem der Wunsch nach mehr Kooperation im Fokus der Debatte. Die Verantwortung für die Work-Life-Balance wird dabei sowohl der Arbeitgeberseite als auch der Arbeitnehmerseite zugeordnet, und es werden Vorschläge zur Vermittlung von kontroversen Diskursthemen angeführt. Dabei wird u. a. die Einführung von paritätischen Gremien zur Verhinderung ungleicher Machtverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und die Einführung von Jobcoaches und gemeinsam erarbeiteten Aktionsplänen für die Gesundheit am Arbeitsplatz zur Diskussion gestellt. Diese Position wird u. a. von der Arbeitsmedizin vertreten.


5 In der seit 2013 jährlich stattfindenden Studie Quality of Work Index Luxembourg (QoW-Index) werden Arbeitnehmer u.a. zu Arbeitsbelastungen, den Arbeits- und Erholungszeiten, der Zusammenarbeit zwischen Kollegen usw. befragt (Sischka & Steffgen, 2019). Auf der Basis dieser empirischen Studien wird u. a. aufgezeigt, dass das Belastungspotenzial und bestimmte Stressoren für Arbeitnehmer im Kontext der modernen Arbeitswelt größer geworden sind. Auch wenn die junge Generation hiervon weniger betroffen ist als ältere Arbeitnehmer, plädieren die Autoren dieser Studien insgesamt dafür, dass sowohl von Seiten der Politik als auch von Seiten der Arbeitgeber künftig mehr Verantwortung für die Gesund- heit und das Wohlbefinden am Arbeitsplatz übernommen werden müsse – auch in Form von strukturellen Maßnahmen (Chambre des Salariés, 2017, 102:4).

6 Im Oktober 2016 wurde in Luxemburg eine neue Reform für die Elternzeit Mit der ab 1. Dezember 2016 in Kraft getretenen Gesetzesänderung soll die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefördert, eine stärkere Bindung zwischen Eltern und Kindern geschaffen sowie die Möglichkeit der Auszeit auch für Väter eröffnet werden (Chambre des Députés, 2016).

7 https://www.fda.lu/actualites/espace-presse (zuletzt abgerufen am Oktober 2020).