8. Wie Experten über das Wohlbefinden und die Gesundheit Jugendlicher diskutieren

8.3.1. Gesundheitsgefährdung und jugendtypische Risikofaktoren

In den vorangegangenen Kapiteln des Jugendberichtes wurde gezeigt, dass die Mehrheit der luxemburgischen Jugendlichen ihre Gesundheit als gut oder ausgezeichnet einschätzt. Aber ein Teil der Jugendlichen berichtet auch von körperlichen Beschwerden und empfindet diese als belastend (vgl. Kapitel 4 und 6). Ein erster Diskursstrang, der sich über alle vier Untersuchungsfelder hinweg durchzieht, befasst sich in diesem Sinne mit den klassischen Themen der körperlichen Gesundheit und der jugendtypischen Risikofaktoren. Dabei werden beson- ders die Ursachen und Bedingungen thematisiert, unter denen sich körperliche Gesundheit oder körperliche Erkrankungen im Jugendalter entwickeln.

Die körperliche Gesundheit und das Risikoverhalten von Jugendlichen wird in diesen Diskursen besonders häufig als eine Konsequenz von Umweltbedingungen interpretiert. So werden Phänomene wie das sogenannte Komasaufen, Übergewicht oder der Konsum legaler Drogen einerseits als zeitliche Trends, die sich wandeln, und andererseits als jugendtypische Probleme diskutiert, die im Wandel der Gesellschaften beständig geblieben sind.

„[déi Jonk] entwéckele mat der Societéit, an d‘Societéit huet geännert.

(Exp6, 78:89)

Während ein Teil der Jugendlichen diese risikoreiche Lebensphase aus Sicht der Experten sozusagen als „Verlierer“ beendet, weil es ihnen weniger gut gelingt, jugendtypisches, risikobehaftetes Verhalten zu verändern, schaffen andere dies besser. Für sie stellt ein bestimmtes Risikoverhalten lediglich ein zeitlich begrenztes Abenteuer dar, das meist ohne Folgen für die Gesundheit bleibt.

Risikofaktoren in der modernen Gesellschaft

Als ein besonderer Risikofaktor der heutigen Zeit wird in den Diskursen über die körperliche Gesundheit das „übergroße Markt- und Konsumangebot“ hervorgehoben. Es birgt nach Meinung der Experten deshalb Gefahren für die körperliche Gesundheit, weil die Jugendlichen über die sozialen Netzwerke selbstverständlich und jederzeit auf eine Fülle von (auch gesundheitsgefährdenden) Angeboten zurückgreifen können. Weil viele Jugendliche heute zudem über einen sehr hohen Vernetzungsgrad verfügen, können neue Produkte, Ideen und Anregungen – auch aus dem Internet – sehr schnell Resonanzeffekte erzeugen.

Bezogen auf die körperliche und psychische Gesundheit der Jugendlichen besteht eine weitere grundlegende Sorge in allen Untersuchungsfeldern darüber, dass die Veränderung der Lebensbedingungen, das hohe Lebenstempo und der zunehmende Leistungsdruck, dem die Jugendlichen nach Meinung der Experten ausgesetzt sind, zu neuen Krankheits- und Belastungssymptomen führen könnten. Bereits jetzt wird ein Zuwachs an psychosomatischen und psychischen Störungen (Entwicklungs-, Verhaltens-, Lern- und Angststörungen sowie Depressionen) wahrgenommen (77:10; Permien, 2010).

„Jo, en hëlt zou. En hëlt wierklech zou. Mir froen eis heiansdo: ‚Ass et, dass mir méi gesinn? Oder ass et dass et zouhëlt?‘ Bon et, eis Psychologin huet deslescht nach gesot, si huet d’Impressioun déi zwou Saachen. Si kommen éischter, awer et sinn der och vill méi. […] [Et sinn] Ängschten am Grupp ze sinn, wierklech sou sozial Ängschten. Ängschten virun der Prüfung, Ängschten virum Versoen, virun ongewësser Zukunft, Ängschten verbonnen mat Krankheeten an der Famill, Verloscht vun Elteren, ganz ganz ënnerschiddlech Saachen. Jo.

(Exp7, 43:54)

Auch der in den vorangegangenen Kapiteln beschriebene Anstieg stressbedingter Belastungen im Jugendalter wird mit Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingun- gen vertieft diskutiert: Stresssymptome, Rückzugs- oder Suchttendenzen werden hierbei als die neuen Zivilisationskrankheiten charakterisiert und durch soziale, ökonomische und psychische Faktoren erklärt (95:13). Dabei wird ganz allgemein eine zunehmende gesellschaftliche Orientierung am Leistungsprinzip beklagt, die sich auf sämtliche Lebensbereiche der jungen Menschen auswirke und den Leistungsdruck in der Schule, im Sportverein oder im Kulturverein erhöhe. Diese Orientierung wird nach Ansicht der Experten in nicht unerheblichem Maße auch von den Eltern befördert. Von ihnen werde immer öfter ein Idealbild gezeichnet, das für die jungen Menschen nur unter Stress und erheblichem Druck zu erreichen sei (60:1; 80:1; 81:46).

Besonders in soziologisch orientierten Gesundheitsdiskursen wird diese Entwicklung vor dem Hintergrund umweltbezogener und psychosozialer Risikofaktoren reflektiert. Die Gesellschaft Luxemburgs wird dabei zunehmend als „trendy“ und als „Start-up-Gesellschaft“ (77:16) wahrgenommen, die sich modernisiert und in der ökonomische Werte immer stärker in den Vordergrund treten.

„[D’Gesellschaft] ass sou Start-up, sou trendy. Mee dat huet op de Mënsch…, dass dat Einfacht net méi esou verlaangt, an och d‘Aarbechtswelt, wéi d‘Elteren, den Trafic an d‘Logement […]. An du kanns och soen, déi kollektiv Strukturen. Wéi wäit deen Gebuergenheetsfaktor, deen Bindungsfaktor, wou Kanner déi Ur-Rou e bëssen [fort ass] […]. An et sinn och vill Kanner, déi Charakteren hunn, déi wären esou frou, roueg.

(Exp9, 77:16)

In der Beobachtung der befragten Experten drohen der Geborgenheitscharakter und die notwendige Entspannung, die junge Menschen in ihrem sozialen Umfeld suchen und zudem dringend benötigen, mehr und mehr zugunsten einer schnelllebigen, medien- und wettbewerbsorientierten Bildungs-, Arbeits- und Freizeitwelt verloren zu gehen.

Strategien zur Förderung der körperlichen Gesundheit

Unter den beschriebenen Bedingungen erscheint den Experten die Sicherstellung der körperlichen Gesundheit als ein Balanceakt von Risiken und Ressourcen. Die Bewältigung von Herausforderungen gelinge nur dann, wenn Jugendliche hierfür über genügend Resilienz und über ausreichende Ressourcen verfügten (Fooken & Zinnecker, 2009). Strategien, mit denen dieser Zustand möglicherweise erreicht werden kann, bestehen in der Sicht einiger Experten aus einer Kombination von verhaltens- und verhältnispräventiven Ansätzen zur Förderung des Gesundheitsverhaltens der Jugendlichen. In einigen Diskurspositionen werden auch gezielte Informations- und Sensibilisierungskampagnen zu gesundheitlichen Themen für zweckmäßig gehalten (88:44).

Trotz der vielfach umgesetzten Aktionspläne im Bereich Ernährung und Bewegung (z. B. Gesond iessen, méi beweegen sowie zur Bekämpfung illegaler Drogen und zur Alkohol- und Suchtprävention äußert sich ein Teil der befragten Experten bezüglich der Erfolge solcher Präventionsmaßnahmen eher skeptisch (55:18; 21:3). Viele der Maßnahmen werden insgesamt als zu linear und zu determiniert wahrgenommen, so dass den Jugendlichen zu wenig Raum für eigene Gestaltungswege gegeben sei. Diese Experten plädieren für eine globalere, partizipativere und stärker an der Bedürfnis- und Problemlage der Jugendlichen orientierte Unterstützungsstrategie, die die Jugendlichen in ihrer Lebenswelt betrachtet und ihnen ein aktives Mitwirken an der Verbesserung ihrer Gesundheit ermöglicht.