8. Wie Experten über das Wohlbefinden und die Gesundheit Jugendlicher diskutieren

8.3.2. Psychische Gesundheit von Jugendlichen

Neben der körperlichen Gesundheit erhält das Konzept der psychischen Gesundheit in Luxemburg eine immer stärkere Aufmerksamkeit. Hierzu legt das Datenmaterial unterschiedliche Diskursstränge offen.

Zunehmende Thematisierung der psychischen Gesundheit im europäischen Kontext

Die Bedeutungszunahme psychischer Gesundheit in den Fachdiskursen in Luxemburg ist zunächst auf Impulse aus europäischen und internationalen Politikdiskursen zurückzuführen, die sich in den Restrukturierungsprozessen wohlfahrtsstaatlicher Arrangements verorten lassen. Psychische Gesundheit wird darin als ein grundlegendes Menschenrecht und als eine sowohl individuelle als auch kollektive Ressource gefasst; beides gilt es zugleich zu schützen und zu fördern. Dabei spielt eine Rolle, dass die westlichen Staaten durch die Investition in das so verstandene „Humankapital“ ihre jeweilige Gesellschaft in die Lage versetzen möchten, „mit den Risiken und Unwägbarkeiten des Lebens in einer globalisierten Wissensgesellschaft aktiv und selbstgesteuert umzugehen, soziale Risikolagen zu überwinden und drohende Ausgrenzungsprozesse zu vermeiden“ (Olk, 2007). Diese wohlfahrtspolitischen Konzepte und Leitbilder unserer Zeit, die unter Oberbegriffen wie „aktivierender Staat“ oder „Sozialinvestitionsstaat“ propagiert werden, sind darauf ausgerichtet, durch Investitionen in der Gegenwart (und in die Gesundheit der jungen Generation) zu gesellschaftlichen Gewinnen in der Zukunft zu kommen (Allmendinger, 2009; Olk, 2007; WHO, 2019)8. Die psychische Gesundheit der Gesellschaft wird in diesem Sinne als ein wichtiges Gut betrachtet, ohne das sich diese gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Zielsetzungen kaum verwirklichen lassen. Sie wird zudemals ein multifaktorielles Phänomen diskutiert, also ein Phänomen, das von vielfältigen Faktoren beeinflusst wird und daher sämtliche Lebens- und Politikbereiche betrifft.

In diesem Kontext bezeichnet die WHO das Bildungssystem und die Arbeitswelt im metaphorischen Sinne als die Motoren der Produktivität der EU und hebt besonders die Schule und den Arbeitsplatz als Orte der Prävention und des Schutzes vor psychischen Problemen und Erkrankungen hervor (3:19). Dieses Narrativ, das auch im Europäischen Pakt für die mentale Gesundheit aufgegriffen wird, rückt das Konzept der psychischen Gesundheit auch in die Richtung eines Kosten- und Innovationsfaktors für den europäischen Raum.

„Le niveau de santé mentale et de bien-être de la population joue un rôle essentiel dans la réussite de l’UE en tant qu’économie et société fondée sur la connaissance. C’est un facteur important dans la réalisation des objectifs de la stratégie de Lisbonne pour la croissance, l’emploi, la cohésion sociale et le développement durable.

(European Commission, 2008)

Die Bedeutungszunahme des Konzepts der psychischen Gesundheit gründet sich außerdem auf wissenschaftliche Referenzen, die von insgesamt steigenden Prävalenzraten (besonders im Bereich von Depressionen und Suiziden) in der EU ausgehen (1:10; 83:3; 99:3). Die Studien verweisen auf eine erhöhte Gefahr psychischer Belastungen und Erkrankungen als eine Folge steigender sozialer Ungleichheit und veränderter Bedingungen des globalisierten Arbeitsmarktes (6:5). Sie resümieren, dass bereits in der frühen Lebensphase der Grundstein für ein gesundes Leben bzw. für psychische Erkrankungen und Probleme gelegt werde. Hieraus wird die Notwendigkeit abgeleitet, auch Kinder und Jugendliche als Zielgruppe nachhaltiger Förderstrukturen und Präventionsmaßnahmen hervorzuheben und diese im Bildungssystem sowie in den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe und -medizin anzulegen.

Psychische Gesundheit als Thema nationaler Reformen

Die generelle Bedeutungszunahme des Konzepts der psychischen Gesundheit spiegelt sich auch in einer Reihe nationaler Gesetzesreformen und institutioneller Entwicklungen wider, mit denen auf gesellschafts- und sozialpolitische Veränderungen in Luxemburg reagiert wurde und wird.

In den analysierten Dokumenten wird die Bedeutungszunahme des Konzepts etwa im Zusammenhang mit der Psychiatrie- und Psychotherapiereform (3:31; 3:35), des Jugendgesetzes (74:107), des AEF-Gesetzes (40:1; 40:9; 71:1) und der aktuellen Reformierung des Kinder- und Jugendschutzgesetzes (5:10; 5:20; 25:12; 40:5; 40:6) diskutiert. Fragen zur Förderung der psychischen Gesundheit werden dabei u. a. im Zusammenhang mit den bestehenden Strukturproblemen der öffentlichen Erziehung, den Chancengleichheitsdefiziten des allgemeinbildenden Schulwesens, von Professionalisierungsfragen oder mit Blick auf psychiatrische Versorgungsprobleme relevant. Aus diesen politischen und fachlichen Auseinandersetzungen sind vielfältige strategische Vorschläge und Maßnahmen hervorgegangen, die seither in den unterschiedlichen Praxisfeldern weiterentwickelt und institutionalisiert wurden. Hierzu zählt die Installation einer dezentralisierten, differenzierten und bedarfsgerechten psychiatrischen und therapeutischen Versorgung ebenso wie die Einführung einer veränderten Jugendschutzstrategie oder die Ausdifferenzierung von Hilfe- und Unterstützungsstrukturen im Bereich der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. Auch die beschriebene Etablierung eines erweiterten Bildungsverständnisses im formalen und nonformalen Bereich, die Förderung von Partizipation und Mitbestimmung sowie die Aufwertung der ganzheitlichen und vernetzten sozialen Dienstleistungserbringung sind Strategien, die im Rahmen dieser Politikdiskurse mit Blick auf die psychische Gesundheit der Jugendlichen diskutiert und umgesetzt wurden und werden.

Höhere Sensibilisierung für ein „gesamtgesellschaftliches Problem“

Neben der wachsenden Aufmerksamkeit von Seiten der europäischen und nationalen Politik lässt sich die Bedeutungszunahme der psychischen Gesundheit auch an der allgemein zunehmenden Sensibilität für psychische Belastungen, Stress und Leistungsdruck in Schule und Arbeitsbereich, aber auch in der Gesellschaft insgesamt feststellen. Als Ursachen hierfür werden sowohl der Anstieg der Prävalenzzahlen in einschlägigen Studien diskutiert (Rattay et al., 2018; Ravens-Sieberer et al., 2012; Schmid, 2007; Waldhauser et al., 2018) als auch die bereits an anderer Stelle angesprochene Zunahme der Diagnosehäufigkeit und eine stärker wahrnehmbare öffentliche Resonanz für die Thematik (80:12).

Einige Diskurspositionen befassen sich in diesem Kontext mit dem wahrgenommenen Anstieg von individuellen und sozialen Problemen sowie Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen, die sich in den konkreten Praxisbezügen von Schule, Freizeit, Hilfsangeboten und Arbeit widerspiegeln (60:4; 80:1). Quantitative Studien über solche Störungen und Verhaltensauffälligkeiten liegen in Luxemburg derzeit nicht vor (69:2). Der Ursprung dieser Positionen basiert vielmehr auf Stellungnahmen und Berichten aus Arbeitsgruppen und Interviews sowie aus einschlägigen Medienberichten (69:2). Häufig wird auch in konkreten Erfahrungsberichten aus Schulen und sozialen Einrichtungen auf steigende Belastungen und psychische Probleme hingewiesen (60:4).

„Wat elo méi konkret d‘Thematike vum psychesche Wuelbefannen oder méi psychologesch Thematiken ugeet […]. Dat kënnt oft bei sou Saache, jo mat sozial Angscht, déi sech ausdréckt, wat scho ganz fréi op 7ème lassgeet, Verglach zu virun dräi Joer.

(Exp9, 77:13)

Auch in diesen Praxis- und Mediendiskursen werden psychische Probleme wie Konzentrationsstörungen, chronische Beschwerden, Angststörungen, depressive Episoden oder Bindungsstörungen sowie Verhaltensauffälligkeiten als ein zunehmend gesamtgesellschaftliches Problem definiert, das nicht einer speziellen sozialen Schicht zugeordnet werden kann.

„D‘Kanner mat psycheschen Problemer hunn an der Reegel Elteren mat bestëmmten Problematiken […]. Dat zitt sech duerch déi gesamten Populatioun, mat populatiounsspezifeschen Problematiken. Mee letztlech huet all sozial Schicht, huet hir Problematik. An et ass net d‘Famill, mengen ech, an den Réckgang vun der Famill. Et ass wierklech d‘Santé mentale vun eisen Erwuessenen, déi et ausmécht.

(Exp17, 81:46)

Weiterentwicklung der Suizidprävention

Mit Blick auf die steigenden Prävalenzzahlen im Bereich von psychischen Erkrankungen und Belastungen (besonders in internationalen Studien) prägt in Luxemburg auch das Thema Suizid den Diskurs über den Bedeutungsanstieg psychischer Gesundheit. Seit 2012 gilt das Thema als eine Priorität der öffentlichen Gesundheit, mit der Folge, dass im Jahr 2013 der Nationale Suizidpräventionsplan 2015 – 2019 zur Verhütung von Selbstmord und weitreichender Depression in das Regierungsprogramm aufgenommen wurde.

„La prévention du suicide concerne l’ensemble de la population et constitue une réelle priorité pour le gouvernement luxembourgeois. Chacun a un rôle important à jouer dans la prévention du suicide, en commençant par les structures de santé, les écoles, mais aussi le monde de l’entreprise et la communauté au sens large.

(Plan National de Prévention du Suicide Luxembourg 2015 – 2019)

Das übergreifende Ziel dieser interdisziplinär und in Federführung des Gesundheitsministeriums erarbeiteten Strategie ist es, die Ursachen und Folgen von Selbstmord nachhaltig zu bekämpfen und Selbstmordversuche zu reduzieren. Ein Schlüsselelement bei der Entwicklung der nationalen Suizidpräventionsstrategie war es deshalb, auch die Suizidprävention als ein multisektoriales Thema zu behandeln, das über den Gesundheitsbereich hinweg auch den Bildungsbereich, den Arbeitsbereich, die Wohlfahrtspflege, das Gerichtswesen und andere miteinbezieht. Der aktuelle HBSC-Suizidbericht der Universität Luxemburg aus dem Jahr 2020 unterlegt den Diskurs mit Daten zum suizidalen Verhalten der Jugendlichen in Luxemburg in der Zeitspanne 2006–2016 (Catunda et al., 2020) (vgl. hierzu auch Kapitel 4.4, S. 88).


8 In ihrem Faktenblatt zur psychischen Gesundheit schreibt die WHO: „Die psychische Gesundheit sollte als eine wertvolle Quelle von Humankapital oder Wohlbefinden in der Gesellschaft betrachtet Wir alle brauchen gute psychische Gesundheit, um zu gedeihen, um uns selbst zu kümmern und mit anderen zu interagieren, weshalb es wichtig ist, nicht nur die Bedürfnisse von Menschen mit definierten psychischen Störungen zu berücksichtigen, sondern auch die psychische Gesundheit aller Menschen zu schützen und zu fördern und den ihr innewohnenden Wert zu erkennen.“ (Weltgesundheitsorganisation, 2019)