8. Wie Experten über das Wohlbefinden und die Gesundheit Jugendlicher diskutieren

8.3.3. Der Zusammenhang von Digitalisierung und Gesundheit

Auch die Digitalisierung und ihre Folgen für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Jugendlichen werden in allen Untersuchungsfeldern thematisiert9. Dabei lassen sich drei zentrale Diskursstränge aus dem empirischen Datenmaterial erschließen.

Digitalisierung als Risiko

Im ersten Diskursstrang wird die Digitalisierung als ein Risiko für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Jugendlichen wahrgenommen (Groupe RADELUX, 2012; Ministère de la Famille et de l’Intégration, 2010; Ministère de la Santé, 2015). Im Zentrum dieser Position steht die Sensibilisierung der Jugendlichen, die insgesamt als eine schutzbedürftige Zielgruppe betrachtet werden. Themen wie Diskriminierung, Gewalt, sexueller Missbrauch oder Suizid werden als potenzielle Risiken der Jugendphase beschrieben, die sich durch eine kaum kontrollierbare Nutzung neuer Technologien und aufgrund des Überangebots an frei zugänglichen Informationen immer weiter verschärfen (können).

„[…] den Zougang zu allen Informatiounen ass eppes, wat Jugendlech psychesch virun e Problem kann stellen, well d‘Veraarbechtung dann awer méi schwiereg gëtt. Also den Zougang zu sozialen Medien oder zu Inhalter an sozialen Medien oder d‘Verbreedung vun Contenuen, ech soen elo mol, vum pornografesche Material oder Gewalt opruffenden Materialien ass méi einfach ginn. Dat ass, wann ech dat vergläichen zu mengem Jugendalter, hätt ech net gewosst, wéi ech un déi Contenuen géif kommen an haut geschitt dat quasi am Alldag an automatesch. Domadder muss een, dat ass eng grouss Erausfuerderung fir Jugendlecher denken ech, fir dat alles ze verschaffen an och richteg anzeuerdnen oder fir net dovun ze léieren an dat anzeschätzen. Dat ass eng grouss Erausfuerderung.

(Exp3, 76:19)

Risiken für die psychische Gesundheit der Jugendlichen werden auch im Zusammenhang mit Mobbing und Cyber-Bullying gesehen sowie im wachsenden Konsumdruck und der damit einhergehenden Gefahr der Mediensucht. Weil wichtige Erfahrungen und Lernprozesse aus Sicht der befragten Experten heute vielfach in virtuellen Welten generiert werden und die Face-to-Face-Kommunikation mit der Familie und mit Freunden zugleich zurückgeht, wird davon ausgegangen, dass der Prozess der Identitätsbildung immer häufiger in der virtuellen Welt vollzogen wird. Ohne unmittelbare Interaktionen fehle es der jungen Generation aber an wichtigen Lern- und Reflexionsmöglichkeiten, die zum Erwerb personaler und sozialer Kompetenzen dringend benötigt würden. Zudem drohten Jugendliche so immer öfter zu vereinsamen. In diesem Kontext warnen die Experten auch vor einem negativen Einfluss des digitalen Konsums auf die Hirnentwicklung und/oder das soziale Verhalten der Jugendlichen. Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit verbinden sie besonders mit dem zunehmenden Bewegungsmangel, den der Medienkonsum mit sich bringe.

„dat sinn déi, déi mir guer net méi erreechen [well si] de ganzen Dag virum Computer sëtzen. Dat sinn déi, déi schonn en Deel mat Diabetes 2 da gehäit sinn, well se ze fett gi, well si de ganzen Dag virum Computer sëtzen, déi guer keng Beweegungsofleef méi kënnen. Déi […] wou en 4-järegt Kand, wat normal gefërdert ginn ass, dat kann sech besser beweegen wéi déi Leit.

(Exp5, 14:15)

Die Ursachen für die wahrgenommenen Entwicklungen verankern die befragten Experten in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unserer Zeit, wobei eine Digitalisierung der frühen Kindheit und eine gezielte Förderung von Digitalisierung durch Lobbygruppen besonders kritisch hervorgehoben werden. Aus dieser Sicht werden Programme der Bewegungsförderung, eine stärker reglementierte Handynutzung sowie die Sensibilisierung der Eltern hin zu einer besseren Kontrolle des Medienkonsums der Jugendlichen als Wege vorgeschlagen, über die die thematisierten Probleme verbessert werden können.

Lernen, mit der Digitalisierung umzugehen

Im zweiten Diskursstrang wird die Digitalisierung nicht ausschließlich negativ wahrgenommen, sondern sie wird als ein gesellschaftliches Phänomen betrachtet, das „extrem wichtig“, aber „nicht einfach zu handhaben“ ist (79:00ff). Der Fokus dieser Position liegt stärker auf der Thematisierung geeigneter Strategien für den richtigen Umgang von Familien und Jugendlichen mit der digitalen Welt, wobei in erster Linie die Erwachsenen als verantwortliche Akteure angesprochen werden (Hartmann et al. 2018; Ministère de la Famille et de l’Intégration, 2010; Nilles & Both, 2015). Die Jugendlichen selbst werden als per se neugierige und aktive Heranwachsende aufgefasst, die sich ihrer Umwelt gegenüber prinzipiell offen zeigen und grundlegend Neues erkunden möchten. Es sind vor allem die Wissenslücken der Erwachsenen über die neuen Medien und ein Mangel an positiven Vorbildern für die junge Generation, die als Kernprobleme in Bezug auf die Digitalisierung betrachtet werden und die es aus Expertensicht zu lösen gilt.

„Medienerzéiung, do musse mir eppes maachen! Ech mengen souwuel bei den Elteren d‘Responsabilitéit fir Medienerzéiung, fir Mediekonsum vun hire Kanner ze kontrolléieren an do nozekucken, als och bei de Kanner selwer.

(Exp5, 79:19)

Auch hier werden eine bessere Sensibilisierung und die medienpädagogische Weiterbildung der Eltern und Erwachsenen im Gleichschritt mit den Jugendlichen als wirksame Präventionsstrategien hervorgehoben. Wichtig erscheint es demnach auch, eine Balance zwischen digitalem und realem Leben herzustellen und immer wieder auf die nach wie vor zentrale Bedeutung des persönlichen Kontakts zwischen Eltern und Jugendlichen hinzuweisen.

Digitalisierung als Chance

Der dritte Diskursstrang unterscheidet sich durch seine Ausrichtung grundlegend von den beiden erstgenannten, denn hier werden die Herausforderungen der Digitalisierung für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Jugendlichen überwiegend positiv gedeutet. So wird in dieser Position davon ausgegangen, dass die digitale Kompetenz, die die junge Generation in ihrem späteren Berufsleben dringend benötigt, schon heute spielerisch durch das breite Medienangebot erlernt werden kann. Dabei wird akzeptiert, dass sich die Kommunikation insgesamt im digitalen Medienzeitalter verändert hat, und es wird begrüßt, dass die junge Generation in diesem Bereich über mehr Wissen verfügt als ältere Generationen. Auch ein möglicher Einfluss der digitalen Mediennutzung auf die Entwicklung des Gehirns wird hier als eine Etappe in der Weiterentwicklung der Menschheit interpretiert, die nicht per se negativ verstanden werden müsse. In diesem Sinne wird die Digitalisierung als eine „normale“ Entwicklung der Zeit betrachtet, die die Gesellschaft vielleicht in ähnlich epochaler Weise beeinflusst, wie zu früheren Zeiten der Einzug des Fernsehers in die Haushalte es tat.

„Ech mengen, all Generatioun ass schwiereg par Rapport zu der gesellschaftlecher Entwécklung. Also ech mengen, fréier war et d‘Tëlee, haut ass et déi ganz Medien an Computer an Handyen, Geschichten. […] Ech muss awer soen, ech gesinn awer och den positiven Effekt vun deene Saachen […] an dass déi Jonk awer do enorm Kompetenzen och an deene Beräicher ganz jonk scho kréien, déi en Erwuessenen awer dräimol sou vill Efforten muss maache, fir iwwerhaapt do eranzekommen.

(Exp20, 87:10)

Die Jugend wird in dieser Position weniger als eine Phase des Lernens oder des Übergangs definiert, sondern als eine eigenständige Lebensphase mit ihren jeweiligen eigenen Bedingungen des Aufwachsens. Jugendliche werden dabei durchgehend als kompetente und aktive Personen beschrieben, die ihre eigenen Entscheidungen treffen (können). Dabei kommt auch der Partizipation als einem Förderfaktor von Gesundheit und Wohlbefinden eine große Bedeutung zu.

Allerdings wird auch in dieser Position auf die Gefahr einer steigenden sozialen Ungleichheit unter den Jugendlichen hingewiesen, wenn nicht alle gleichermaßen an den Digitalisierungsprozessen teilhaben können. Daher wird es für wichtig gehalten, dass alle Jugendlichen gleichermaßen Zugangsmöglichkeiten zu den neuen Medien erhalten und Schulen dementsprechend medial ausgestattet werden.


9. Bei der Datenanalyse konnten im Zusammenhang mit der Digitalisierung 30 Zitate in sieben Dokumenten und über fast alle Interviews und Felder hinweg kodiert werden.