8.3.4. Die Frage der Verantwortlichkeit für die Gesundheit und das Wohlbefinden von Jugendlichen
Quer durch das Datenmaterial und in allen Untersuchungsfeldern wird auch die Frage diskutiert, in wessen Verantwortung die Gesundheit und das Wohlbefinden von Jugendlichen eigentlich liegt.
Wohlbefinden von Jugendlichen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Mit Blick auf die formale Rahmung der Politik- und Fachdiskurse wird dabei zunächst deutlich, dass in sämtlichen Regularien und über die ministeriellen Grenzen hinweg auf die Gesundheitsdefinition der WHO Bezug genommen wird. Die Verantwortung für die Gesundheit und das Wohlbefinden des Einzelnen wird darin in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext verortet und als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe definiert.
„Promouvoir des conditions favorables à la santé mentale relève d’une responsabilité commune et collective au niveau politique, sociétal, professionnel et au niveau de chaque citoyen. Ce principe repose sur le souci de renforcer les liens sociaux protecteurs et de favoriser des lieux de vie sains et promoteurs de santé.“
(Louazel et al., 2010, S. 29)
Dies impliziert die Schaffung gesundheitsfördernder Rahmenbedingungen in allen Gesellschaftsbereichen, damit es den systemrelevanten Institutionen wie der Familie, der Schule, der Medizin usw. bestmöglich gelingt, die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen. In dieser Perspektive kommt also allen gesellschaftlichen Akteuren und Systemebenen gleichermaßen die Verantwortung zu, in ihrem je unterschiedlichen Kontext dafür Sorge zu tragen, dass Kinder und Jugendliche gesund aufwachsen – und eben auch und in zunehmendem Maße den jungen Menschen selbst.
Die Verantwortungsübernahme beginnt hier bei der Verfassung gesundheitsbezogener politischer Leitlinien und Strategien, wird über die Inhalte von Förder- und Präventionskonzepten auf die institutionelle Ebene transferiert und kommt nicht ohne die konkrete Mitwirkung der Familien und die Befähigung und Stärkung des einzelnen Jugendlichen aus. Dabei wird das Bild des Jugendlichen als Akteur und Gestalter seiner Gesundheit besonders in den politischen Kontexten, aber auch auf der Ebene des Expertendiskurses mehr und mehr hervorgehoben. Diese Einbeziehung und Befähigung der Jugendlichen sollte, so die Meinung der befragten Experten, idealerweise unterstützend und begleitend sowie mit Respekt den Jugendlichen gegenüber geschehen.
„Fir mech war ëmmer e ganz wichtegen Punkt: wat ass d‘Verantwortung vun deenen Erwuessenen […]? Wann ee Verantwortung huet, da sinn et déi Erwuessen. […] An zwar keng repressiv, mee eng begleedend […]. Dat heescht, wou leien d‘Verantwortungen a wéi kënne mer se begleeden, dass si eben herno och Erwuessener sinn, déi eppes kënnen an d‘Hand huelen?“
(Exp2, 74:3)
Verantwortung wird dabei also in einem engen Zusammenhang mit Konzepten der Autonomieförderung und der Partizipation gesehen.
„Participatioun jo, mee awer och am Sënn vun ‚Verantwortung do loossen wou se ass‘. Mee virun allem heescht dat, d‘Kanner eescht huelen an d‘Welt och versichen aus der Siicht vun den Kanner ze verstoen“
(Exp10, 89:86)
Allerdings werden Fragen der Verantwortung nach wie vor auch mit strukturellen Machtasymmetrien in Verbindung gebracht, und dies besonders im Hinblick auf das professionelle Handeln in sozialen und erzieherischen Einrichtungen sowie Einrichtungen der formalen Bildung. Diese Asymmetrien resultieren aus Sicht der Experten u.a. daraus, dass in bestimmten Feldern rechtliche Verpflichtungen zur Übernahme von Verantwortung für die Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen bestehen. Sie verstetigen sich in unterschiedlichen Durchsetzungskompetenzen und Entscheidungsbefugnissen sowie in ungleich verteilten Wissens- und Verfahrenskompetenzen zwischen Institutionen, Fachkräften und Jugendlichen bzw. deren Familien.
„Et ass elo an Termen net nëmmen vu Gesondheet, am enken Sënn vum Wuert, mee dat spillt dann och do mat eran, wann zum Beispill de Jugendriichter decidéiert:,D‘Kand oder de Jugendlechen muss an der Psychiatrie hospitaliséiert ginn‘ an en placéiert d‘Kand dohinner. Dann huet d‘Klinick d‘Autorité parentale. Dat soll jo elo geännert ginn. Mee sou laang wéi dat net geännert ass, huet dann d‘Klinick d‘Autorité parentale iwwert dat Kand, iwwert deen Jugendlechen. An do weist einfach d‘Praxis an d‘Erfarung an och den gesonde Mënscheverstand vun deenen Leit, déi déi Aarbecht maachen, dass dat net glécklech ass.“
(Exp10, 11:28)
Solche Machtasymmetrien können aus Expertensicht prinzipiell über beteiligungsorientierte Ansätze zugunsten der Jugendlichen ausgeglichen werden. So wird an Beispielen aus dem Kontext der Fremdunterbringung verdeutlicht, wie die Koexistenz von Verantwortung, Partizipation und Respekt dazu beitragen kann, mehr freie Entwicklungsräume für Jugendliche zuzulassen, ohne diese jedoch in einem komplett regellosen und strukturfreien Raum allein zu lassen. Ein gesetzlicher Hilfe- und Unterstützungsauftrag könne etwa besonders dann zu einer Entschärfung von Machtasymmetrien zwischen Professionellen und Jugendlichen führen, wenn eine „maximale“ Beteiligung (der Eltern und der Jugendlichen) erfolge und diese mit „absolutem“ Respekt gegenüber Eltern und Jugendlichen verbunden werde.
Letztlich kann aus Sicht der Experten nur über solche Wege sichergestellt werden, dass Jugendliche und ihre Familien sich auch in schwierigen Problemsituationen handlungsmächtig und damit auch verhältnismäßig wohlfühlen.
Institutionalisierung von Kindheit und Jugend und der Rückgang der Verantwortungsübernahme von Familien
Eine weitere Diskursposition in diesem Kontext beschreibt viele der vorgenannten Risikofaktoren und Probleme als ein Resultat veränderter Familienstrukturen, des Rückgangs familiärer Ressourcen und der zunehmenden außerfamilialen Institutionalisierung von Kindheit und Jugend. Dabei wird unterstellt, dass es der Institution Familie zunehmend schlechter gelingt, ihrer Verantwortung gegenüber den Kindern und Jugendlichen bereits frühzeitig und ausreichend nachzukommen.
„Also eis Annahmen, dat ass, […] dass mir an eng ëmmer méi gestresst Gesellschaft kommen. Dass mir ëmmer méi un eng Realitéit kommen, dass d‘Elteren net méi genuch Zäit hunn fir d‘Kanner, dass d‘Kanner zum Deel ëmmer méi an d‘sozial Ariichtungen kommen. […] Mee wou den Lien vläicht mat den Famillen oder mat den Elteren ëmmer manner staark ass.“
(Exp12, 82:16)
Dieser wahrgenommene Rückgang der Verantwortungsübernahme durch die Eltern ist aus der Expertensicht mit einem Rückgang an Erziehungskompetenz verbunden, der sich darin zeigt, dass es Eltern insgesamt heute weniger gut gelingt, ihren Kindern emotionale Stabilität, Halt und einen festen Rahmen für eine gesunde Sozialisation zu geben (74:91). Es wird angenommen, dass es unter diesen Bedingungen für die junge Generation künftig schwieriger wird, die Entwicklungsphasen von Kindheit und Jugend sowie die Transition ins Erwachsenenalter ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen zu meistern. Das vermehrte Aufkommen von psychischen Problemen und Angststörungen wird in dieser Sichtweise also hauptsächlich dem Verlust an Orientierungsmöglichkeiten zugeordnet.
„Mir hunn eng ganz Rei Jonker déi, wou mir soen, déi sinn délaisséiert. Dann sinn si an engem Single-Household, wou d‘Mamm meeschtens jo dann och iwwerfuerdert ass. Si hunn och keen Kader, […] deen et kann opfänken.“
(Exp8, 88:34)
Zugleich wird der Elterngeneration, aber auch den institutionellen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen vorgehalten, aufgrund von Erziehungsunsicherheit und/oder institutionellen Reglementierungen dazu bei- zutragen, dass Autonomiespielräume mehr und mehr eingeschränkt werden und wertvolle experimentelle Freiräume für Jugendliche verloren gehen. Die Folge solcher als „Überbehütung“ markierten Tendenzen sei, dass Kinder und Jugendliche auch von wichtigen Entwicklungsschritten ferngehalten würden.
„Jugendlecher hautdesdaags hunn […] keng Méiglechkeet méi, och mol scheiteren ze dierfen, jiddwer Gefor gëtt ewechgeholl, si dierfen net méi zu Fouss an d‘Schoul goen, an den Kolonien dierfe se dat engt oder dat anert net méi maache, well d‘Educateuren d‘Responsabilitéit net méi iwwerhuelen […]. Dat ass wierklech eng Problematik an deen Effekt dovunner, ech menge mir hunn elo déi éischt Jugendlecher, déi dann den ganze Parcours duerchlaf hunn, just institutionell erzunn ze ginn […]. Dat ass net fir näischt, datt souvill Ängschten entre-temps, souvill Leit mat Ängschten ze dinn hunn an och mat aneren psycheschen Opfällegkeeten, well si verschidden, wéi soll ech soen, Schrëtt an hirer Entwécklung guer net konnte vollzéien, wou si sech selwer kënnen ausprobéieren, testen, och mol Risiko op sech huelen. Si musse jo autonom ginn, se sinn awer net autonom.“
(Exp5, 79:10)
Diese Diskursposition wird besonders in der Jugendarbeit und im Schulbereich vertreten (79:10; 82:13). Im Schulbereich betrifft sie u. a. Fragen zu den Chancen und Grenzen des selbstgesteuerten Lernens. Mit Blick auf die immer häufiger überwiegend institutionell betreute Schülergeneration werden bei der Umsetzung von Konzepten des autonomen Lernens wachsende Probleme erwartet. In der Jugendarbeit wird hingegen vermehrt auf die schwindenden Möglichkeiten des Aufbaus von Resilienzen als eine Folge dieser Entwicklung hingewiesen. In den Augen einiger Experten ist die Gesellschaft daher zunehmend gezwungen, die abnehmende Erziehungskompetenz der Eltern durch multiple Interventionsmaßnahmen und Elternkurse zu kompensieren.