4.4.3. Der Gewichtsstatus und dessen subjektive Einschätzung
Übergewicht und Fettleibigkeit (Adipositas) sind laut der Global Burden of Disease Study globale Pandemien – im Jahr 2015 waren weltweit mehr als 100 Millionen Kinder und mehr als 600 Millionen Erwachsene fettleibig. Zu hohe Werte des Body-Mass-Index (BMI) waren allein im Jahr 2015 für 4 Millionen Todesfälle verantwortlich, die meisten davon aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Typ-2-Diabetes (Afshin et al., 2017). Die Bedeutung von Übergewicht und Adipositas als Gesundheitsrisiken hat in den letzten Jahren zugenommen. So stand ein zu hoher Body-Mass-Index im Jahr 2015 (nach Rauchen und Bluthochdruck) auf Platz 3 der bedeutendsten Gesundheitsrisiken in Luxemburg. Im Jahr 1990 war es lediglich Platz 13 (Forouzanfar et al., 2016). Auch der HBSC-Trendbericht hat gezeigt, dass der Anteil der übergewichtigen Schüler in Luxemburg zwischen 2006 und 2018 gestiegen ist (Heinz, van Duin, et al., 2020).
Adipositas in der Adoleszenz ist auch deshalb ein Gesundheitsproblem, weil damit das Risiko um das Fünffache steigt, als Erwachsener adipös zu sein (Simmonds et al., 2016). Allerdings ist Adipositas nicht nur ein Problem mit Blick auf die Zukunft, vielmehr haben übergewichtige und adipöse Kinder und Jugendliche auch ein erhöhtes Risiko beispielsweise für kardiovaskuläre Krankheiten, wie etwa erhöhten Blutdruck und erhöhte Blutfettwerte (Friedemann et al., 2012).
Im Folgenden wird zunächst der Gewichtsstatus der Teilnehmer der HBSC-Befragung und des YSL anhand von soziodemografischen Merkmalen dargestellt. Anschließend wird ausgewiesen, wie die Befragten ihren Gewichtstatus selbst einschätzen, d. h., ob sie davon ausgehen, dass sie zu dick oder zu dünn sind. Danach werden der tatsächliche Gewichtsstatus und der subjektive Gewichtsstatus abgeglichen. Dieser Abgleich zeigt, ob die Befragten ihren Gewichtsstatus korrekt einschätzen oder sich für dicker oder dünner halten, als es ihrem Gewichtsstatus entspricht.
Die folgende Einteilung des Gewichtsstatus in Übergewicht, Normalgewicht und Untergewicht basiert auf dem BMI, der berechnet wird, indem das Gewicht in Kilogramm durch die quadrierte Körpergröße in Meter geteilt wird (kg/m²). Die Angaben zu Größe und Gewicht beruhen auf der Selbstauskunft der Befragten, wobei unrealistische Werte ausgeschlossen wurden. Laut WHO gelten Erwachsene mit einem BMI von 25 oder höher als „übergewichtig“, Erwachsene mit einem BMI von 30 oder mehr gelten als„adipös“ (WHO expert consultation, 2004). Für Kinder und Jugendliche gibt es keine festen BMI-Grenzwerte, weil sich bei ihnen das Verhältnis von Körpergröße und -gewicht im Laufe des Wachstums stark ändert. Dementsprechend gibt es alters- und geschlechtsspezifische BMI-Grenzwerte, im Folgenden wurden die etablierten Grenzwerte der International Obesity Task Force (IOTF) genutzt (Cole & Lobstein, 2012).
Abbildung 14 beschreibt den Gewichtsstatus verschiedener soziodemografischer Gruppen unter den Jugendlichen in Luxemburg. Insgesamt ist Übergewicht mit 25,6 % ungefähr dreimal häufiger als Untergewicht (7,7 %). Des Weiteren zeigt sich, dass Jungen und Männer häufiger übergewichtig sind als Mädchen und Frauen – bei Untergewicht ist es umgekehrt. Je älter die Befragten sind, desto weniger von ihnen sind untergewichtig: während 14,2 % der 11- bis 12-Jährigen untergewichtig sind, beträgt dieser Anteil nur noch 3,8 % im Alter von 27 bis 29. Der höhere Anteil an Untergewichtigen bei den Jüngeren kann damit erklärt werden, dass zu Beginn der Pubertät ein starker Wachstumsschub eintritt (Neuhauser et al., 2013). Mit dem Alter verdoppelt sich aber der Anteil der Übergewichtigen nahezu von 17,3 % bei den 11- bis 12-Jährigen auf 31,5 % bei den 27- bis 29-Jährigen.
Die Daten zeigen auch: Untergewicht ist umso häufiger, je höher der soziale Status ist, wohingegen Übergewicht häufiger vorkommt, je niedriger die Befragten ihren sozialen Status einschätzen. Personen mit Migrationshintergrund sind etwas häufiger von Übergewicht betroffen und Personen ohne Migrationshintergrund etwas seltener.
Neben dem tatsächlichen Gewichtsstatus wurde in HBSC und dem YSL auch nach der Einschätzung des Gewichtsstatus gefragt. Diese subjektive Einschätzung durch die Jugendlichen ist unter anderem deshalb wichtig, weil sie mit dem tatsächlichen Gewichtsstatus abgeglichen werden kann und aufzeigt, wie viele Personen ihren Gewichtsstatus korrekt einschätzen oder beispielsweise überschätzen, sich also für dicker halten, als sie sind. Solche Fehleinschätzungen des Gewichtsstatus können dazu führen, dass notwendige Interventionen unterbleiben oder aber Personen ihr Gewicht steigern oder senken möchten, obwohl dies nicht notwendig ist (Kern et al., 2020).
Um herauszufinden, wie die Befragten ihren Körper wahrnehmen, sollten sie den Satz ergänzen: „Denkst du, dass du …“ Die Antworten reichten von „… viel zu dünn bist“ (Kategorie 1) bis „… viel zu dick bist“ (5) auf einer 5-stufigen Skala, wobei „… ungefähr das richtige Gewicht hast“ die Mitte markiert.
Ungefähr die Hälfte der Befragten bewertet ihr Körpergewicht als „ungefähr richtig“, rund ein Drittel hält sich für zu dick und rund jeder Sechste hält sich für zu dünn. Im Vergleich zur Einteilung des Gewichts nach den IOTF-Grenzwerten zeigt sich somit, dass nur etwas mehr als die Hälfte der Befragten der Meinung ist, das richtige Gewicht zu haben, obwohl zwei Drittel der Befragten normalgewichtig sind. Die Fehleinschätzung des eigenen Gewichts geht dabei in beide Richtungen: Während nur etwas mehr als jeder Vierte übergewichtig ist, hält sich jeder Dritte für zu dick. Und obwohl nur weniger als 8 % untergewichtig sind, halten sich 14 % für untergewichtig. Diese Diskrepanzen werden noch größer, wenn die Geschlechter getrennt betrachtet werden. Zwar ist die Einschätzung als „ungefähr richtig“ bei beiden Geschlechtern gleich häufig, aber Jungen/Männer tendieren wesentlich häufiger als Mädchen/Frauen dazu, sich als zu dünn zu empfinden. Frauen und Mädchen neigen hingegen häufiger dazu, sich als zu dick zu empfinden. Somit sind Jungen und Männer zwar häufiger übergewichtig als Frauen, fühlen sich aber seltener zu dick. Spiegelbildlich sind Mädchen und Frauen häufiger untergewichtig, fühlen sich aber seltener als zu dünn. Diese gegenläufigen Tendenzen finden sich in fast allen Ländern, die an der HBSC-Studie teilnehmen (Heinz, Catunda, et al., 2020; Inchley et al., 2020). Dass sich Männer als zu dünn einschätzen und Gewicht zulegen wollen, ist häufig auf das angestrebte Ideal eines muskulösen Körpers zurückzuführen (Nagata et al., 2019), wohingegen bei Frauen das Ideal eines schlanken Körpers vorherrscht, was bei ihnen häufiger zu Unzufriedenheit mit dem Körper und nicht notwendigen Diäten führen kann (Heise et al., 2019).
Abbildung 15 zeigt den Abgleich des objektiven Gewichtsstatus (BMI) mit der subjektiven Einschätzung. Als zutreffend wurde eine Einschätzung definiert, wenn eine normalgewichtige Person ihren Gewichtsstatus als „ungefähr richtig“ einschätzt beziehungsweise sich untergewichtige Personen als „zu dünn“ und übergewichtige Personen sich als „zu dick“ einschätzen. Eine Unterschätzung liegt vor, wenn sich normalgewichtige und übergewichtige Personen für „zu dünn“ halten oder sich übergewichtige Personen für „ungefähr richtig“ halten. Analog liegt eine Überschätzung vor, wenn sich Untergewichtige und Normalgewichtige für „zu dick“ halten oder Untergewichtige ihr Gewicht für „ungefähr richtig“ halten.
Bei der großen Mehrheit von 70,8 % der Jugendlichen stimmt der anhand des BMI ermittelte objektive Gewichtsstatus mit der subjektiven Einschätzung überein. Annähernd gleich viele unterschätzen (14,0 %) oder überschätzen (15,2 %) jedoch ihren Gewichtsstatus. Diese Fehleinschätzung unterscheidet sich nach Geschlecht. Während Jungen und junge Männer häufiger dazu neigen, ihren Gewichtsstatus zu unterschätzen, überschätzen Mädchen und junge Frauen ihren Gewichtsstatus viel häufiger. Damit gehen die jeweiligen Einschätzungen oft in die falsche Richtung. Während Jungen und junge Männer häufiger übergewichtig sind, nehmen sie sich eher als zu dünn war. Umgekehrt sind Mädchen und junge Frauen häufiger untergewichtig als Jungen und junge Männer, aber sie tendieren dazu, sich als dicker wahrzunehmen, als es ihrem Gewichtsstatus entspricht.
Aus der Abbildung geht ebenfalls hervor, dass Ältere ihren Gewichtsstatus häufiger zutreffend einschätzen als Jüngere. Dabei ändert sich die Neigung zur Unterschätzung kaum mit dem Alter, aber bei der Neigung zur Überschätzung kommt es zu mehr als einer Halbierung von 23,5 % (11- bis 12-Jährige) auf 10,6 % (27- bis 29-Jährige). Des Weiteren neigen Personen mit niedrigem Sozialstatus eher zur Unterschätzung ihres Gewichtsstatus, während Personen mit hohem Sozialstatus ihren Gewichtsstatus eher überschätzen. Auch hier besteht wie beim Geschlecht das Problem, dass die Einschätzung in der Tendenz in die falsche Richtung geht, da Personen mit niedrigem Sozialstatus häufiger übergewichtig als untergewichtig sind.
Zusammenfassend zeigen die Daten, dass Übergewicht unter den luxemburgischen Jugendlichen deutlich häufiger vorkommt als Untergewicht. Zudem steigt der Anteil der Übergewichtigen mit dem Alter, wohingegen der Anteil der Untergewichtigen sinkt. Bei Mädchen und jungen Frauen ist der Anteil derer, die sich für zu dick halten, deutlich höher als der Anteil derer, deren BMI tatsächlich als übergewichtig/adipös eingestuft wurde. Dementsprechend neigen Mädchen und junge Frauen eher zu einer Überschätzung ihres Gewichtsstatus. Diese Neigung kann zu unnötigen Diäten oder anderen Versuchen der Gewichtsreduktion führen. Bei Jungen und Männern ist die Situation anders. Sie sind häufiger übergewichtig oder adipös als Mädchen und junge Frauen. Allerdings halten Jungen und junge Männer sich seltener für zu dick. Bei dieser Konstellation besteht die Gefahr, dass Jungen und junge Männer tatsächlich bestehendes Übergewicht nicht erkennen oder Gewicht zulegen wollen, obwohl sie Normalgewicht haben.